Agenten, Protokolle, Macht: Die große Neuordnung im digitalen Werbemarkt
Sandra Goetz, 27. November 2025Agentic AI verändert die digitale Werbung schneller, als die Branche reagieren kann. Während viele noch über Automatisierung sprechen, verschieben sich Kaufentscheidungen, Bewertungskriterien und Sichtbarkeit bereits in KI-gesteuerte Systeme. Neu ist nicht nur die Geschwindigkeit dieser Entwicklung, sondern auch die gleichzeitige Entstehung zweier technischer Schichten: Mit ACP im Commerce und AdCP im Media-Bereich vollzieht sich eine Doppelmutation, die das Fundament des digitalen Werbemarktes neu ordnet.
Beide Protokolle adressieren unterschiedliche Felder, gehören jedoch zur gleichen Bewegung. ACP (Agentic Commerce Protocol) bildet die Grundlage agentischer Commerce-Workflows, AdCP (Ad Context Protocol) schafft eine gemeinsame Sprache, damit KI-Agenten das offene Web überhaupt verstehen können. Im Kern geht es um die Frage, ob das offene Web im KI-Zeitalter eine eigene Stimme behält oder ob geschlossene Plattformökosysteme die entscheidenden Schnittstellen kontrollieren werden.
„Das Internet verändert sich“, sagt Brian O’Kelley, CEO und Mitgründer von Scope3 und einer der historischen Architekten des programmatischen Werbemarkts. „Die Oberflächen, auf denen Werbung stattfindet, verschieben sich. Und die Supply Chain, die rund um Programmatic entstanden ist, funktioniert nicht mehr.“
Während ACP zeigt, wie schnell Commerce in geschlossene KI-Systeme wandert, bildet AdCP das technische Gegenmodell, das Transparenz und Offenheit im Media-Ökosystem sichern soll. Beide Protokolle adressieren verschiedene Marktseiten, gehören jedoch zur gleichen strukturellen Verschiebung. Erst durch ihren Zusammenhang wird sichtbar, wie tiefgreifend sich das Fundament der Werbewirtschaft verändert.
ACP: Open AI setzt einen Wendepunkt
Konkret wurde dieser Wandel sichtbar, als Open AI Ende September Instant Checkout in Chat GPT integrierte. Was zunächst wie ein Komfort-Feature wirkte, entpuppte sich als Oberfläche eines offenen Standards: dem Agentic Commerce Protocol. ACP bildet die technische Schicht, die es Chat GPT ermöglicht, Produkte zu erkennen, Warenkörbe zusammenzustellen und Bestellungen autonom auszuführen. Die Entscheidungswege bleiben vollständig innerhalb des Systems, sie kehren nicht in das offene Web zurück.
Wichtig ist die Unterscheidung:
- ACP ist ein offenes, global nutzbares Protokoll.
- Instant Checkout, die konkrete kommerzielle Umsetzung, ist bisher nur in den USA live.
Der geografische Abstand beruhigt kaum. Die Mechanik ist etabliert und wird nach Europa kommen, sobald Händler angebunden sind. Für Marken bedeutet das, dass ein wachsender Teil von Kaufentscheidungen in KI-Räumen entsteht, die sie nicht sehen und kaum beeinflussen können. Für Publisher verschiebt sich Commerce in Kontexte, die außerhalb des offenen Web stattfinden. Genau hier entsteht jene strukturelle Spannung, die eine Reaktion der Branche erforderlich machte.
Vor diesem Hintergrund formulierte O’Kelley den Satz, der zur Chiffre des Umbruchs wurde: „Programmatic is dead.“ Gemeint ist kein Abgesang auf programmatische Mechanismen, sondern das Ende eines Systems, das strukturell an seine Grenzen stößt. „Programmatic wird nicht über Nacht verschwinden“, präzisiert O’Kelley im Gespräch. „Doch die Art, wie wir darüber denken, verändert sich, weil wir jetzt Werkzeuge haben, die alte Limitierungen überwinden.“ Ein Punkt ist für ihn zentral: „DSPs und SSPs verschwinden nicht einfach. Die Infrastruktur bleibt bestehen, aber ihre Rolle verändert sich, weil sich die Entscheidungslogiken verschieben.“
Wie AdCP entstand: Zwei Perspektiven, ein Bedarf
Die Entstehung von AdCP zeigt, wie früh die Branche erkannte, dass agentische Systeme einen gemeinsamen Verständigungsrahmen benötigen. Anne Coghlan, Co-Founder und COO von Scope3, beschreibt, wie dieser Gedanke gleichzeitig an mehreren Stellen aufkam. „Mehrere Unternehmen kamen unabhängig voneinander zur gleichen Schlussfolgerung“, sagt sie. „Die Frage, wie KI-Agenten das offene Web verstehen sollen, tauchte an mehreren Orten gleichzeitig auf.“
Scope3 schuf den Raum, in dem diese Impulse zusammenlaufen konnten. „Wir haben AdCP nicht erfunden. Wir haben nur den Rahmen geschaffen und die technischen Grundlagen geliefert, damit andere Unternehmen andocken konnten“, sagt Coghlan, eine studierte Mathematikerin. Auf der Agencies Stage der Dmexco 2025 skizzierte sie in ihrer Keynote „Beyond the Hype: The Agentic Advertising Future“ die Bedeutung einer offenen Basisschicht für agentische Systeme.
Rajeev Goel, Mitgründer und CEO von Pubmatic, verstärkte diese technische Linie. Als Pubmatic im September eine der ersten offenen Implementierungen des Model Context Protocol live stellte, wurde klar, dass einzelne Integrationen nicht ausreichen. „Brian [O’Kelley] und ich haben vor mehr als zehn Jahren beim Aufbau und der Skalierung von Open RTB mitgewirkt“, sagt Goel. „Wir wissen genau, welche Risiken entstehen, wenn eine Branche zu lange mit der Definition gemeinsamer Standards wartet.“ Er formuliert es unmissverständlich: „Wenn offene Standards nicht früh genug definiert werden, füllen geschlossene Systeme das Vakuum. Der Markt schrumpft dann, statt zu wachsen.“ Pubmatic, Scope3 und Yahoo stellten AdCP Mitte Oktober gemeinsam vor. Magnite und Samba TV gehörten zur ersten Welle der Launch-Partner. Innerhalb weniger Tage kamen weitere Unternehmen hinzu.
Der Branchenanalyst Rio Longacre lieferte eine der ersten fundierten technischen Einordnungen. In einem Blog-Beitrag auf Medium bezeichnete er AdCP als „SMTP der Werbung“, also eine Basisschicht, die KI-Agenten über Plattformgrenzen hinweg verständliche Kommunikation ermöglicht. Longacre verortete AdCP im entstehenden offenen Agentic-AI-Stack, gemeinsam mit MCP und UCP. Seine Analyse bringt es klar auf den Punkt: Agenten sind nur so gut wie die Signale, die sie verarbeiten können.
Diese offene Perspektive steht im Kontrast zu neuen geschlossenen KI-Systemen. Google koppelt Gemini an agentische Entscheidungsmechanismen, Meta entwickelt Advantage+ weiter, Amazon vertieft Rufus in Commerce-Workflows und Microsoft verzahnt Copilot mit Shopping- und Serviceprozessen. Auch große Agenturgruppen wie WPP entwickeln proprietäre agentische Systeme, die Kreation, Media und Daten vollständig innerhalb abgeschlossener Ökosysteme bündeln. Während das offene Web eine gemeinsame Sprache entwickelt, entstehen parallel geschlossene KI-Ökonomien, die definieren, was sichtbar wird und was nicht.
Stimmen der Infrastruktur: Wohin die agentische Logik führt
Aus europäischer Sicht wird die Dynamik besonders greifbar. Carsten Sander, Geschäftsführer von BCN und zuvor 25 Jahre in verschiedenen Positionen bei Burda Forward, beschreibt die Lage der Publisher eindringlich: „Chat GPT auf Basis von ACP ist ein geschlossenes Ökosystem. Open AI kontrolliert Zugang, Regeln und Monetarisierung.“ Für ihn ist das weniger eine technische Frage als eine Machtverschiebung. „Im ACP-Modell liefern Publisher Inventar nach Bedingungen, die sie nicht definieren.“
Sichtbarkeit entsteht künftig nicht mehr durch Reichweite, sondern durch strukturierte Publisher-Signale. „Publisher-Daten entscheiden über Sichtbarkeit im agentischen Ökosystem. Nur wer differenzierte Signale liefert, bleibt relevant.“ AdCP ist für ihn deshalb nicht nur ein technischer Standard, sondern ein Schutzmechanismus für das offene Web.
Auch auf der Buy-Side verschiebt sich die Logik. Arnaud Chatagnier, VP Product bei Criteo, sagt: „Agentic Advertising verstärkt die Bedeutung hochwertiger Commerce-Signale.“ Er ergänzt: „Ohne Genauigkeit auf Produktebene können KI-Agenten keine belastbaren Entscheidungen treffen.“
Güldag Prange, General Manager Client Services bei The Trade Desk, rückt die Governance ins Zentrum: „Wenn KI-Agenten autonom handeln, braucht es Plattformen ohne eigene Inventory-Interessen.“ Sie warnt: „Nur offene Standards verhindern, dass Marken die Kontrolle über ihre Entscheidungen verlieren.“
Dominik Heck, CEO von Digital Control, wies Anfang November in einem Gastbeitrag für ADZINE auf fragmentierte Standards hin. Die operative Geschwindigkeit, mit der agentische Systeme jetzt entstehen, überholt jedoch viele der bisherigen Standardisierungsprozesse.
2026 entscheidet: Bleibt das offene Web offen?
Der Blick über die technische Entwicklung hinaus lohnt sich. Bereits in den späten 1970er-Jahren beschrieb der französische Philosoph und Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio das Paradox des rasenden Stillstands: Systeme können sich so stark beschleunigen, dass Bewegung nicht mehr als Bewegung wahrgenommen wird. Als Virilio diese Beobachtung formulierte, existierte das Internet zwar in seinen technischen Grundlagen, seine gesellschaftliche Rolle war jedoch kaum abzusehen.
Heute ist genau dieses Paradox Teil der digitalen Realität. Die Gleichzeitigkeit von Beschleunigung, Automatisierung und Orientierungslosigkeit, die Virilio theoretisch modellierte, zeigt sich nun in der ökonomischen Funktionsweise des Netzes. Es ist kein Randphänomen, sondern die neue Normalität.
ACP und AdCP markieren nicht nur zwei technische Schichten. Sie markieren eine operative Geschwindigkeit, die die Werbewirtschaft mitten in dieses Paradox führt. Während viele Marktteilnehmerinnen und Marktteilnehmer noch versuchen, die Tragweite dieser Entwicklungen einzuordnen, verändern agentische Systeme bereits die Art, wie Entscheidungen vorbereitet und getroffen werden.
2026 wird zu einem Prüfstein für das offene Web. Die zentrale Frage lautet, ob eine offene Gesellschaft eine offene digitale Infrastruktur behält oder ob geschlossene KI-Systeme den größten Teil der Wertschöpfung absorbieren. Die agentische Ära hat begonnen. Offen bleibt, ob sie das Web sichtbarer macht oder ob sie es verschluckt.