Fast täglich gehen Personal-Pressemeldungen ein, die deutlich machen sollen: Frauen sind am Ruder. Als Regional Director DACH und als EMEA Commercial Director. Oder als Managing Director, vielfach als Senior Manager und ab und an, wenn auch noch viel zu selten, als Geschäftsführerin mit eigenständiger Budgetmacht. „Alles fein, läuft!“, so der erste Eindruck. Doch der Schein trügt.
Auch wenn Frauen in Adtech immer sichtbarer und hörbarer werden, sich Branchenveranstalter wie die bevorstehende Dmexco auf die Fahne geschrieben haben, den Frauenanteil auf ihren kuratierten Main Stages zu erhöhen – nämlich auf 40 Prozent – darf all das über eines nicht hinwegtäuschen: Es ist noch viel Luft nach oben. Dabei geht es nicht allein darum, dass Frauen die gläserne Decke durchbrechen und in der Adtech-Branche in die Führungsebene kommen, es geht um viel mehr.
Dabei verhieß schon der dritte Gleichstellungsbericht des BMFSJ (2021) nichts Gutes: „Auch wenn der Zugang gelingt, verlassen mehr als die Hälfte der Frauen die Digitalbranche wieder. Kaum eine schafft es ins Topmanagement.“ Ähnliche Aussagen und Ergebnisse gibt es in den USA: „How The Advertising Industry Can Stop The Exodus Of Women“ fragte Videoweek Anfang dieses Jahres in einem viel beachteten Artikel.
Abgesehen davon, dass Topmanagement-Positionen begrenzt sind, ganz egal in welcher Branche, verzerren die berechtigten Diskussionen um die gläserne Decke, den Gender Pay Gap und die negativen Auswirkungen der Pandemie auf das Erwerbsleben von Frauen dabei sehr wichtige Aspekte, die ebenso aufs Tableau gehören. Fünf von diesen haben wir identifiziert.
Branchen-Attraktivität ist gefragt
Erstens geht es nicht allein darum, dass Frauen sich gleichberechtigt in Top-Positionen arbeiten, sondern dass die Adtech-Branche grundsätzlich ein attraktives Arbeitsfeld für Frauen ist. Und zwar auf jedem Berufslevel. Nicht jede will auf C-Level Niveau arbeiten, das mittlere Management bis hin zu Ausbildungsmöglichkeiten und Karriereeinstieg müssen bereits interessant für Frauen sein. Dabei sind Wege zu schaffen, die es sowohl Quereinsteigerinnen möglich machen, in der Branche Fuß zu fassen, als auch Frauen Arbeitszeitmodelle anzubieten, die für die jeweilige Lebenssituation angemessen sind (dasselbe gilt für Männer). Dazu zählen u.a. Elternzeit, Pflege von Angehörigen, Teilzeitarbeit ohne schlechtes Gewissen, Jobsharing oder auch ein Sabbatical.
Gezielte Förderprogramme müssen her
Zweitens: Was den Karriereweg ins C-Level-Universum betrifft, geht es laut Dorota Karc, Head of Programmatic von Walldecaux, nicht ohne interne Förderprogramme seitens der (privatwirtschaftlichen) Unternehmen. „Vielen meiner Kolleginnen in der Branche und mir ist es wichtig, die Anzahl an Frauen in Führungspositionen zu erhöhen. Neben den Frauen, die bereits in Führungspositionen sind, erreichen viele Frauen höhere Positionen nicht, weil sie nicht an sich glauben, Ängste haben oder nicht für bestimmte Beförderungen kämpfen. Man muss dieses Problem benennen und besonders jüngeren Frauen dabei helfen, es zu lösen, zum Beispiel mit Role Models. Als Gesellschaft muss das Thema Empowerment weiter vorangetrieben und diskutiert werden. Empowerment bedeutet dabei nicht nur Karrierechancen zu erhöhen, sondern auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen.“ Die Schaffung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist – siehe Grundgesetz, vor allem Artikel 3 (2) und 3 (3) – eine Aufgabe der Politik. Die Zeit der Lippenbekenntnisse ist vorbei.
Diversity ist mehr als nur m/w/d
Drittens braucht Vielfalt Verständnis, Klartext und Veränderungswillen. Wenn man sich in der Branche umhört, sind Diversity und Inklusion seit Jahren fester Bestandteil der Unternehmenskulturen. Pubmatic, Sage+Archer, Walldecaux, Xandr und viele andere mehr haben sich nicht nur hierzu verpflichtet, sondern Diversity-Programme auf nationaler und globaler Ebene aufgesetzt, ebenso “Working Groups” initiiert. So engagiert sich Walldecaux seit mehr als zehn Jahren in gesellschaftlichen Initiativen. „Ein Beispiel ist das Bündnis gegen Homophobie in Berlin oder als neueste Initiative die Beyond Gender Agenda, ein Zusammenschluss vieler Unternehmen, die Diversity, Equity & Inclusion (DE&I) fest in den Organisationen verankern wollen“, sagt Dorota Karc.
„Für mich bedeutet Diversity vor allem die Kraft, Diskriminierungen zu eliminieren. Sei es hinsichtlich des Geschlechts, Ethnizität, sozialer Herkunft, sexueller Orientierung, Alter, physischer und psychischer Verfassung. Aus meiner persönlichen Erfahrung als Frau mit türkischer Abstammung, geboren und aufgewachsen in Berlin-Kreuzberg und beruflich tätig in einer von Männern dominierten Industrie, weiß ich sehr genau, welche Herausforderungen und Hürden aufkommen“, sagt Aylin Demiral, Business Development Director von Sage+Archer, die einen auch für die Adtech-Szene untypischen – diversen – Ausbildungsbackground hat.
Die Berlinerin hat Musikwissenschaften, Philosophie und Kunstgeschichte an der TU studiert. Danach folgte ein Sound-Engineering-Studium und der berufliche Karriereeinstieg bei der Coca-Cola Company in der Unternehmenskommunikation. Darauffolgend ging Aylins Laufbahn in Richtung Adtech und Vertrieb von DSPs für die programmatische Werbung.
Bye bye Karrierekiller – Let’s talk about Wechseljahre
Viertens gilt es weiterhin, gesellschaftliche Tabus zu durchbrechen. Emma Newman, Chief Revenue Officer EMEA bei Pubmatic, ist seit über 20 Jahren in der Digitalbranche tätig, davon fast ein Jahrzehnt in verschiedenen Funktionen in diesem Unternehmen. Die britische Top-Managerin, verheiratet, Mutter eines Sohnes im Teenageralter, spricht ein Thema rund um Frauen und Karriere an, das in Deutschland nur zögerlich aus der Tabuzone geholt wird, in Großbritannien aber schon seit längerem in den Medien heiß diskutiert wird: Es geht um die Wechseljahre, medizinisch Klimakterium. Diese sind ein sehr individueller Prozess, der bei jeder Frau zu einem anderen Zeitpunkt beginnt. Auch die Dauer ist unterschiedlich lang. Insgesamt umfassen die Wechseljahre mehrere Jahre, die in unterschiedliche Phasen (Prämenopause, Menopause, Perimenopause, Postmenopause) eingeteilt werden.
Fakt ist: Es gibt keine Frau, der dieser Wechsel gefällt und nur sehr wenige, die gerne darüber sprechen. Auch deshalb, weil die Wechseljahre als “stiller Karrierekiller” gelten; schließlich tritt das Klimakterium meist dann ein, wenn eine berufstätige Frau sie absolut nicht braucht. Im Alter zwischen 40 und 55 Jahren. Männer gibt es überall, auch jenseits der 50 und jenseits der 60, die einen attraktiven Job bekommen, Management, Geschäftsführung, Vorstand, Staatssekretär et cetera – und Frauen? Das Klimakterium macht unsichtbar und unsicher. Sortiert lautlos aus.
“Ich weiß noch, als es bei mir anfing. Die Schlaflosigkeit ... Noch schlimmer waren die Hitzewallungen, vor allem, wenn ich in einem Meeting saß. Aber was noch viel schlimmer war, waren meine Stimmungsschwankungen und dass ich Phasen hatte, in denen ich von einer Sekunde auf die andere vergessen habe, was ich eigentlich wollte. Wo ich einen Zettel hingelegt habe, was ich sagen wollte, was auch immer ... es war wie weggeblasen. Ich hatte Angst, dass ich an einer beginnenden Demenz leide, dass ich nicht mehr arbeiten kann, dass andere meine Konzentrationsschwäche bemerken”, schildert Emma Newman ehrlich und schonungslos ihre temporären Erfahrungen mit den Wechseljahren. Dabei blieb es nicht: “Es ist nicht hinnehmbar, dass wir gut ausgebildete und berufserfahrene Frauen verlieren, weil sie im Klimakterium weder Verständnis noch Unterstützung erfahren. Also wechseln sie den Arbeitsplatz oder hören ganz auf zu arbeiten”, sagt Newman, die aufgrund ihrer Erfahrungen aktiv wurde und seitdem offen über das Thema spricht, als Mentorin fungiert sowie offene Gespräche und eine Policy Review bei Pubmatic initiiert hat.
Ein langer Atem ist gefragt
Last but not least: Den angestrebten Frauenanteil von 40 Prozent auf den Main Stages wird die Dmexco knapp verfehlen. Wenige Tage vor dem wichtigen Branchenevent sind es immerhin 38,9 Prozent: „Leider sind die Replacements für kurzfristig ausgefallene, weibliche Speakerinnen oft männlich“, bedauert Milko Malev, Director Communications and Media der Dmexco. Das passt, fünftens, leider, zu den vielen Pre-Dmexco-Einladungen und Pressemeldungen, die gerade mit hoher Frequenz ins Postfach trudeln. In erster Linie werden männliche Gesprächspartner für Medientalks und Hintergrundgespräche in Köln angeboten. Auch das macht deutlich: Es ist noch ein holpriger, weiter Weg, der zu laufen ist. Hier ist ein langer Atem gefragt. Nicht nur für Frauen in Adtech – das betrifft alle Akteure.
Dieser Artikel ist Teil einer Miniserie. Der zweite Artikel der Serie ist hier zu finden: Dare to be different – Frauen in Adtech II.
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