Warum die Branche den Signalverlust nicht länger totschweigen kann
Karsten Zunke, 14. Oktober 2025
Das Targeting wird unpräziser, Reichweiten schrumpfen, Nutzer verweigern den Consent: Der Signalverlust ist kein lokales, sondern ein weltweites Problem, weiß Christian Zimmer, Managing Director von Welect. Im Interview zeigt er auf, warum die Branche das Thema nicht länger totschweigen sollte, wie Intent-Signale in Echtzeit neue Chancen eröffnen und an welchen Stellschrauben das Open Web drehen muss, um gegen die Walled Gardens wettbewerbsfähig zu bleiben.

ADZINE: Christian, Signalverlust ist inzwischen ein feststehender Begriff im digitalen Marketing. Welche Signale brechen aktuell am stärksten weg?
Christian Zimmer: Signalverlust meint weit mehr als nur das Cookie-Sterben. Besonders schwer zu fassen ist der Non-Consent-Traffic, da Publisher unterschiedlich damit umgehen. Klar identifizierbar ist dagegen der Traffic von Nutzern im Privacy-Modus, mit Adblockern, auf Safari oder Firefox oder ohne IDFA-Zustimmung bei Apple. Letztlich betrifft der Signalverlust alle klassischen Tracking-Mechanismen – also Daten, die nicht mehr sichtbar sind und keine Signale mehr an eine DSP senden.
ADZINE: Wer ist dafür verantwortlich – die Verbraucher oder der Gesetzgeber?
Zimmer: Alle Marktteilnehmer haben in der Vergangenheit handwerkliche Fehler gemacht, indem sie eine Gratiskultur im Internet entwickelt und gefördert haben. Es gab immer Möglichkeiten, Inhalte kostenlos zu konsumieren. Dass Content nur deshalb kostenfrei ist, weil er mit Werbung gegenfinanziert wird – dieser Zusammenhang wurde nicht klar genug kommuniziert. Entsprechend bauen Konsumenten heute immer mehr Abwehrmechanismen gegenüber Werbung auf. Hinzukommt, dass mit den Daten der User in der Vergangenheit mitunter nicht sorgfältig genug umgegangen wurde. Oft wurden sie mit irrelevanter Werbung zugeschüttet, was viele zu Adblockern greifen lässt. Zu diesem Signalverlust durch die Adblocker kommen technische Signalverluste durch Restriktionen von Hardwareherstellern, Browseranbietern und vom Gesetzgeber hinzu. Das Consent-Banner ist heute wahrscheinlich das meistgesehene Banner im Web.
ADZINE: Welche Folgen hat der Signalverlust für Targeting und Attribution?
Zimmer: Ohne Consent beispielsweise fallen Nutzer aus den klassischen Auslieferungsketten. Publisher müssen eine immer kleinere Grundgesamtheit monetarisieren. Die Folge ist, dass die Targeting-Güte sinkt, der Ad-Druck steigt und die Ad-Fatigue zunimmt. Das treibt wiederum mehr Menschen in Adblocker, Privacy-Modus oder zur Consent-Verweigerung. Attribution und Steuerung leiden entsprechend.
ADZINE: Ist der Signalverlust eigentlich nur ein deutsches beziehungsweise europäisches Thema?
Zimmer: Nein, es ist ein globales Thema. Menschen versuchen überall, Werbung zu vermeiden – sinnbildlich wie der ‚Keine Werbung‘-Aufkleber am Briefkasten. Wenn Werbung nicht relevant ist, wird sie im Web ausgeblendet. Die Aufgabe muss jetzt sein, Werbung wieder relevant zu machen – im Moment der Auslieferung. Der Mensch muss sich bewusst entscheiden, Werbung zu konsumieren. Heute bauen wir alles auf Vergangenheitsdaten, aber Menschen haben über den Tag verteilt unterschiedliche Interessen – das bilden die Systeme aktuell nicht ab. Und dann sagen die Leute: Werbung nervt. Wenn Nutzer hingegen im Moment der Entscheidung aktiv wählen können, was sie sehen wollen, steigt die Offenheit für Werbung.
ADZINE: Wie gut ist der Effekt des Signalverlusts messbar? Gibt es valide Zahlen dazu, wie viel Adressierbarkeit und Messbarkeit im deutschen Markt bereits verloren gegangen ist?
Zimmer: Für Adblocker gibt es valide Zahlen, sonst eher Ableitungen. Generell sehen wir rund 50 Prozent Signalverlust – also nur noch etwa die Hälfte der Onliner ist über klassische Systeme adressierbar. Studien deuten darauf hin, dass das in Zukunft bis zu 70 Prozent wachsen könnte. Das stellt die heutigen Auslieferungssysteme zunehmend infrage.
ADZINE: Die OWM hat kürzlich davor gewarnt, dass das Open Web durch die Dominanz großer Plattformen unter Druck gerät und hat sieben Forderungen formuliert, um das Open Web zu stärken. Welche Stellschrauben siehst du, trotz des Signalverlustes die Reichweite im Open Web monetarisierbar zu halten?
Zimmer: Wo kein Login vorhanden ist – typischerweise im Open Web – schlägt ein Signalverlust besonders zu. Publisher kämpfen momentan doppelt. Es gibt weniger vermarktbares Inventar durch den Signalverlust. Außerdem gelangt durch Zero-Click-Effekte und KI generierte Antworten weniger Search-Traffic auf die Seiten der Publisher. Die Publisher benötigen jetzt funktionierende Lösungen zur Refinanzierung. Mit unserem Ansatz eines selbstbestimmten Werbekonsums sind wir in der Lage, den Signalverlust für die Inhalteanbieter zu monetarisieren.
ADZINE: Wenn du die sieben Forderungen des OWM priorisieren müsstest: Welche drei Maßnahmen würdest du als entscheidend ansehen, um das Open Web gegenüber den Walled Gardens nachhaltig zu stärken?
Zimmer: Im Grunde sind die OWM-Forderungen deckungsgleich mit unseren Ansichten und unserem Handeln. Dabei ist aus meiner Sicht das Thema Transparenz von zentraler Bedeutung. Wie können Werbekunden sehen, dass sie eine bestimmte Zielgruppe erreicht haben? In den Walled Gardens bekommen sie Reports und vielleicht sogar eine Wirkungsmessung, aber alles aus der Blackbox. Jede Plattform misst mit eigenen Maßstäben, es gibt keine einheitlichen Standards, um Ergebnisse zu vergleichen. Das muss sich ändern. Darüber hinaus müssen die Verbraucher in den Mittelpunkt gestellt werden. Sie werden heute oft nur als Datenpunkt behandelt. Aber wir sollten die Verbraucher entscheiden lassen, welche Werbung sie sehen möchten – das bringt Relevanz zurück. Letztlich ist es aber wichtig, deterministische Daten mit den Userdaten im Real-Time-Intent zusammenzubringen.
ADZINE: Was genau ist unter Real-Time-Intent zu verstehen?
Zimmer: Unter Real-Time-Intent verstehen wir das, worauf die Person im Moment der Entscheidung klickt, wofür sie sich entscheidet – das ist übrigens der einzige Datenpunkt, den wir nutzen. Wir sammeln keine Daten, bauen keine Datenmodelle, modellieren keine Zielgruppen. Für uns zählt nur der Real-Time-Klick. IDs allein lösen das Signalverlust-Problem nicht. Sie bringen im Grunde das gleiche Problem wie die Cookies mit sich und sie erfordern den Consent. Nicht zuletzt ist der Anbietermarkt fragmentiert. Man wird somit immer eine zusätzliche Lösung benötigen, um sich den wachsenden Non-Consent- und Adblocker-Traffic zu erschließen. Wir sehen eine selbstbestimmte Werbelösung hier als nützliches Add-on.
ADZINE: Könnte nicht auch KI helfen, den Signalverlust zu kompensieren?
Zimmer: Mehr Datenpunkte haben das Targeting bisher nicht präziser gemacht. KI optimiert zwar sehr gut Prozesse, aber sie wird mit Vergangenheitsdaten trainiert. Die individuelle Entscheidung eines Menschen im Moment X kann die Maschine nicht ersetzen. Wir nutzen KI zum Beispiel zur Partnerauswahl und Auslieferungsoptimierung – nicht, um probabilistisch Zielgruppen zu ‚erraten‘. Der Mensch entscheidet, das ist der relevante Datenpunkt für uns.
ADZINE: Welche Rolle wird das Thema Signalverlust für die digitale Werbung künftig spielen?
Zimmer: Eine große – auch wenn die Branche es gern totschweigt. Wir müssen Probleme klar benennen und Lösungen mitliefern. Für die 50 Prozent der Onliner, die sich über klassisches Targeting gut erreichen lassen, gibt es hervorragende Lösungen im Markt. Aber man muss auch über die anderen 50 Prozent nachdenken. Hier gilt es inkrementelle Reichweiten zu erschließen und Kontaktklassen zu optimieren. Unser Ansatz ist daher als Add-on zum Mediaplan gedacht, nicht als Entweder-oder.
ADZINE: Wie geht es bei euch weiter, was sind eure Pläne für die Zukunft des Open Web?
Zimmer: Wir arbeiten aktuell an einem Modell zur nachweisbaren inkrementellen Netto-Reichweite und stehen kurz vor der Testphase mit einem Forschungsinstitut. Unser Ziel ist es, dem Markt konkrete, belastbare Lösungen zu liefern – nicht nur Schlagworte. Wir haben jetzt die Chance, das Open Web aktiv zu stärken – mit mehr Transparenz und mehr Steuerungsfähigkeit für Werbekunden. Ich will nicht, dass der Medienstandort Deutschland von KI-generierten Inhalten dominiert wird. Als Firma wollen wir echten Journalismus erhalten und dazu liefern wir konkrete, nutzbare Lösungen. Nicht nur Buzzword-Bingo. Langfristig möchten wir dazu beitragen, dem Journalismus eine tragfähige finanzielle Basis zu bieten, unabhängig von Blackbox-Systemen.
ADZINE: Vielen Dank für das Interview, Christian!
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