Instore Retail Media braucht Standards – und mehr Kreativität
Karsten Zunke, 23. Oktober 2025Interview mit Laura Hentschel, It Works

Retail Media gilt als einer der spannendsten Wachstumsmärkte im Marketing – doch der Boom hat seine Schattenseiten. In den Ladengeschäften, beim sogenannten Instore Retail Media, erschweren zersplitterte Inventare, fehlende Standards und mangelhafte Vergleichbarkeit den Werbetreibenden das Leben. Im Gespräch erklärt Laura Hentschel, Geschäftsführerin Digital Works von der It Works Group, warum die Branche dringend Standards braucht, wie sich Programmatic in diesem Bereich sinnvoll einsetzen lässt und weshalb insbesondere die Kreation am POS mehr Aufmerksamkeit verdient.

ADZINE: Der Retail-Media-Markt wächst rasant, ist aber auch entsprechend fragmentiert. Wie schätzt du diese Zersplitterung ein – was bedeutet das für euch als datengetriebene Agentur?
Laura Hentschel: Die starke Fragmentierung ist eine unmittelbare Konsequenz der Marktstruktur, vor allem im stationären Lebensmitteleinzelhandel. Es gibt eine Vielzahl von Retailern, viele davon agieren regional unterschiedlich, wie etwa die verschiedenen Edeka-Regionalgesellschaften. Diese Komplexität bedingt eine zunehmende Ausdifferenzierung des Media-Angebotes. Hinzu kommt die Mehrfachvermarktung von Inventaren, was die Intransparenz weiter verschärft. So existieren in vielen Märkten für dasselbe Inventar teils verschiedene Vermarktungspartner. Auch die Inventare innerhalb eines Marktes können unterschiedliche Anbieter haben. Hier drohen Überschneidungen und Kannibalisierung.
Für Agenturen, die datengetrieben arbeiten, bedeutet das: Sie müssen die Komplexität und Granularität der Inventarlandschaft komplett erfassen, um Kampagnen effizient steuern zu können. Programmatic kann hier ein Vorteil sein, setzt aber eine saubere Datenbasis voraus.
ADZINE: Wer profitiert von dieser Marktstruktur und was bedeutet das für die Entwicklung des Retail-Media-Marktes?
Hentschel: Klar profitieren vor allem diejenigen Akteure, die Struktur schaffen können – also Anbieter, die entweder exklusiven Zugang zu Märkten haben oder selbst Inventar-Owner sind. Dort, wo der Zugang in einer Hand liegt, kann Werbung konsistenter und effizienter ausgespielt werden. Diversität im Retail-Media-Markt ist grundsätzlich wünschenswert, hat aber auch ihre Grenzen. Und mittlerweile ist die Grenze definitiv überschritten. Vor diesem Hintergrund rechne ich mittelfristig mit einer Konsolidierung: Die Kannibalisierungs-Effekte werden zwangsläufig dazu führen, dass Angebote stärker gebündelt werden.
ADZINE: Wie vergleichbar sind Retail-Media-Leistungen in diesem fragmentierten Markt? Welche KPIs oder Metriken sind aktuell überhaupt aussagekräftig?
Hentschel: Die Vergleichbarkeit ist extrem schwierig, weil beispielsweise bereits die Screens ganz unterschiedliche Wirkweisen haben. Ein Screen im Eingangsbereich erfüllt eine völlig andere Funktion als einer an der Tiefkühltruhe oder über dem Kassenbereich. Hinzu kommt ein zunehmender Wildwuchs beim Reporting: Manche Anbieter messen die Plays, andere weisen Kontakte aus und wieder andere schätzen die Frequenzen. Mitunter gibt es auch gar keine belastbaren KPIs.
Das Problem ist hier, dass die Branche noch keine einheitlichen Standards etabliert hat, was Formate, Spotlängen oder auch Metriken betrifft. Das erschwert eine objektive Bewertung der Leistungen erheblich. Aber auch auf Shop-Ebene sind Standards dringend nötig. Wir brauchen mindestens innerhalb einer Handelskette konsistente Werbeformate und gleichwertige Screens. Verschiedene Ketten oder Regionen miteinander zu vergleichen, ist ohnehin quasi unmöglich.
Doch zumindest ist das Problem erkannt und erste Schritte sind gemacht: Kaufland und Rewe etwa bieten schon jetzt Reportings mit entsprechenden KPI. Flankierend hilft die Arbeit von Interessenvertretungen wie dem IDOOH, das sich für Standards in der Branche einsetzt.
ADZINE: Welche konkreten Folgen hat diese Intransparenz für Werbetreibende? Und für die Effizienz programmatischer Kampagnen?
Hentschel: Werbetreibende können schnell den Überblick verlieren. Bei mehrfach vermarkteten Inventaren kann es passieren, dass dieselbe Werbung mehrfach eingebucht wird – von unterschiedlichen Anbietern, ohne Koordination. Das ist nicht nur ineffizient, sondern kann sogar kontraproduktiv wirken, weil damit die Kontaktdosis am PoS unnötig hochgetrieben wird. Etwa wenn Doppelbuchungen auf einem Screen laufen, schlimmstenfalls mit unterschiedlichen Motiven zum selben Produkt.
Im programmatischen Bereich lassen sich solche Dopplungen prinzipiell besser vermeiden, aber nur, wenn Plattformen mit entsprechenden Steuerungsmöglichkeiten eingesetzt werden. Diese ermöglichen dann auch die kanalübergreifende Ausspielung von Werbebotschaften. Etwa die Kombi von DOOH und Mobile, die Marken die Chance für ein vernetztes Storytelling geben.
ADZINE: Welche Synergien siehst du in der Kombination mit Digital-out-of-Home?
Hentschel: Retail Media bietet hervorragende Anknüpfungspunkte für datengetriebene DOOH-Kampagnen. Insbesondere Storytelling-Ansätze, die über mehrere Kontaktpunkte hinweg funktionieren, lassen sich sehr gut umsetzen. Beispielsweise kann eine Kampagne, die im urbanen Raum beginnt, im Supermarkt zum Abschluss kommen. Drive-to-Store-Konzepte, die verschiedene Touchpoints vom Bahnhof bis zum Kundenparkplatz verknüpfen, werden hier immer relevanter. Programmatic macht es möglich, diese Reise individuell zu gestalten und die Botschaften kontextuell auszuspielen. Mit Digital-out-of-Home lässt sich Retail Media sehr sinnvoll und praktikabel vernetzen.
ADZINE: Viele Digital-Marketer denken bei Retail Media in erster Linie an E-Commerce-Plattformen. Wird das Potenzial von Retail Media am POS deiner Meinung nach schon ausgeschöpft?
Hentschel: Noch lange nicht. Neben oft unklaren Zuständigkeiten für die POS-Inventare, Mehrfachvermarktungen, uneinheitlicher technischer Ausstattung, fehlenden Standards und mangelnder Messbarkeit fehlt es auch an kreativen Konzepten. Vieles ist noch zu generisch gestaltet. Gerade am stationären Touchpoint liegt aber ein großes Potenzial: Kreativität kann die Relevanz der Werbung deutlich erhöhen. Letztlich ist Aufmerksamkeit das Ziel. Wer die Zielgruppe mit seinen Werbebotschaften abholen möchte, sollte mehr tun, als ein Stück Butter abzubilden.
ADZINE: Online-Retail-Media und Retail-Media am stationären POS – wie lassen sich diese beiden Welten sinnvoll verbinden?
Hentschel: Online-Retail-Media und Werbung am stationären POS sind bislang kaum verzahnt. Vieles läuft nebeneinanderher, auch weil beide Datenwelten häufig nicht integriert sind. Aber die Debatte engt den Blick ein: Die Lösung liegt aus unserer Sicht darin, zusätzliche Datenquellen und Attribute zu nutzen. Es müssen nicht zwingend die Informationen der Händler selbst sein. Ein Beispiel: Wenn sich jemand intensiv mit dem Thema Grillen beschäftigt, lassen sich aus der Customer Journey wertvolle Hinweise für gezielte Ansprache gewinnen – auch ohne Kundenkarten oder Onlineshop-Daten.
ADZINE: Kannst du das bitte noch etwas näher erläutern?
Hentschel: Wir setzen neben externen Datenpartnern auch unsere eigene Data-Management-Plattform ein, die mittels Crawler Webseiten analysiert. So können wir Interessen wie „Grillen“, „Fleisch“ oder „Wein“ erkennen und Nutzer thematisch clustern. Dabei tracken wir keine einzelnen Personen, sondern Cluster. Über eine solche Zuordnung lassen sich Zielgruppen gezielt programmatisch ansprechen. So entsteht beispielsweise ein wirkungsvoller Drive-to-Store-Ansatz, der nicht zwingend auf die Daten der Händler angewiesen ist, sondern über alternative Wege funktioniert.
ADZINE: Wenn du Advertisern eine Empfehlung für die kommenden Monate geben müsstest: Welche Weichenstellungen sind entscheidend, um im Retail-Media-Umfeld nicht den Anschluss zu verlieren?
Hentschel: Besonders viel ungenutztes Potenzial liegt in der Kreation. Noch immer werden viele POS-Werbemittel zu funktional gedacht, ohne echte Ansprache. Dabei ist gerade der physische Kontaktpunkt eine große Chance für aufmerksamkeitsstarke Kommunikation. Es braucht mehr Mut für kreative Formate, auch für den Einsatz von Bewegtbild, 3D-Elementen oder DCO. Zudem sollte die Position des Screens im Markt eine noch größere Rolle im Storytelling spielen. So lässt sich als endemischer Kunden die Angebotskommunikation auf den unterschiedlichen Screens variieren, und der non-endemische Kunde profitiert von der Wartezeit und der vollen Aufmerksamkeit mit seinem Spot auf dem Screen über der Kasse. Unabhängig davon sollte strategisch entschieden werden, welche Teile einer Kampagne klassisch oder programmatisch ausgespielt werden. Beide Wege haben ihre Berechtigung – entscheidend ist die Abstimmung auf das Kampagnenziel.
ADZINE: Vielen Dank für das Interview, Laura!
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