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ADTECH - Interview mit Tom Peruzzi, Virtual Minds

Agentic Advertising ist kein kurzfristiger Hype

Anton Priebe, 28. Oktober 2025

Interview mit Tom Peruzzi, Virtual Minds

Bild: Realistic AI Studio – Adobe Stock

Agentic AI verspricht, Werbesysteme autonomer, effizienter und gleichzeitig „menschlicher“ zu machen. Der Buzz rund um die Technologie ist nicht nur in der Adtech-Szene gewaltig. In Gartners Hype Cycle erklimmt Agentic AI zurzeit den Gipfel der überzogenen Erwartungen. Sind die Erwartungen am Ende etwa doch gerechtfertigt? Tom Peruzzi, Sprecher der Geschäftsführung und CTO von der Adtech-Gruppe Virtual Minds, begleitet seit jeher die technologischen Entwicklungen in der Werbewelt und glaubt an einen grundlegenden Wandel. Für ihn ist Agentic AI kein Selbstzweck, sondern der logische nächste Schritt in einer zunehmend komplexen Wertschöpfungskette in der Werbeindustrie. Im Interview erklärt er, warum Agenten nicht die Kontrolle übernehmen, sondern Vertrauen schaffen müssen, wie sich DSPs, SSPs und Datenplattformen neu sortieren werden und weshalb Europa mit seiner Regulierung beim Eintritt in die agentische Ära vielleicht sogar im Vorteil ist.

Bild: Virtual Minds Tom Peruzzi

ADZINE: Agentic AI gilt als der nächste Evolutionsschritt der KI. Die Agenten handeln autonom und treffen Entscheidungen selbstständig. Dabei war Programmatic Advertising doch schon immer algorithmisch geprägt, Machine Learning gibt es seit Jahren. Ist dieser Hype wirklich gerechtfertigt?

Tom Peruzzi: Wenn man es rein aus der Evolution der Algorithmen betrachtet, kann man sagen: Ja, es ist ein evolutionärer Schritt. Wir sehen heute verbesserte Forecasting-Prozesse, AI-gestützte Yield-Optimierung oder Systeme, die dem Kunden helfen, Kampagnen einfacher umzusetzen. AI hat ja keinen Selbstzweck, sondern soll Entscheidungen erleichtern. Wir haben so viele Datenpunkte oder komplexe Measurements und AI hilft, das Wesentliche herauszufiltern. Das könnte man schon als nächsten Reifeschritt oder eine weitere Professionalisierung des Adtech-Markts betrachten.

Aber wenn man weiter in die Zukunft schaut, also drei, fünf, sieben Jahre von heute aus, dann wird sich die Wertschöpfungskette spürbar verändern. Insofern ist der Hype durchaus berechtigt. Der revolutionäre Prozess ist notwendig, weil er uns Menschen Schritt für Schritt bei dieser vom Wesen her Disruption mitnimmt.

ADZINE: Dann gehen wir also in kleinen Evolutionsschritten zur Revolution?

Peruzzi: Ja, das wäre die romantischste Sicht auf das Thema. Es wird Rückschläge geben, wie damals beim Aufbau von Programmatic. Aber die Veränderung hat bereits begonnen. Und zu sagen, „Agentic AI betrifft mich nicht“, wird nicht funktionieren.

ADZINE: Dann lass uns auf die Wertschöpfungskette schauen. Klassisch haben wir auf der Nachfrageseite DSPs mit Daten und Targeting, auf der Sell-Side die SSPs mit dem Inventar. SPO hat die Rollen schon verschoben. Was passiert, wenn man dort Agentic AI hineingießt?

Peruzzi: Am Ende geht es immer um Entscheidungshoheit. SPO beispielsweise war dazu gedacht, Kosten zu reduzieren und Nachhaltigkeit zu fördern. Ähnlich verhält es sich mit dem Thema Measurement – beides wird auch künftig wichtig bleiben.

Und auch Vertreter auf Buy- und Sell-Side werden nicht obsolet. Es braucht weiterhin Systeme, die im Interesse von Publisher oder Advertiser handeln und mit den die 24/7 Agenten sprechen können. Eine SSP kann das sein, wenn sie sich weiterentwickelt. Sie wird aber neue Funktionen brauchen. Neue Rollen wie eben als Übersetzer oder Auskunftgeber werden wichtiger.

Aber das sind positive Veränderungen, da sie damit das System weiterentwickeln. Wenn Agenten direkt miteinander sprechen können, brechen alte Besitzmonopole auf. Innovation wird leichter. 100-prozentig demokratisch, wie von mir skizziert, wird das nicht ablaufen, aber die Technik gibt es schon her.

ADZINE: Beim Thema KI kommt man am Datenschutz nicht vorbei. Was passiert mit DMPs, CDPs oder Clean Rooms, wenn Agenten selbstständig handeln?

Peruzzi: Die Fragen bleiben dieselben: „Hast du als Publisher Pizzaliebhaber und wie viele?“ Solche Segmente werden weiter gebraucht. Womöglich verschiebt sich die Segmentierung mehr auf die Publisherseite. Sicher ist, DMPs und CDPs müssen sich weiterentwickeln, um in einer agentischen Welt integriert zu bleiben. Vielleicht werden sie sogar selbst Agenten, die mit Publisher-Agenten sprechen.

Datenschutz könnte sich vereinfachen, wenn Daten nicht mehr ständig geteilt, sondern nur synchronisiert werden, etwa über Clean Rooms. Das liegt noch in der Zukunft, aber perspektivisch wird Datenschutz damit entspannter, zumindest aus Sicht der Betreiber.

ADZINE: Jetzt sind wir gedanklich schon in der Situation, dass alle Marktteilnehmer ihre Agenten losschicken, die dann autonom verhandeln. Bis jetzt wird Programmatic Advertising von Menschen gesteuert und die Algorithmen handelten innerhalb vorab definierter Grenzen. Damit das geschehen kann, muss sich das ganze Werbesystem doch schon grundlegend ändern? Was sind die Voraussetzungen dafür?

Peruzzi: Stimmt, wir reden über einen Endausbau, wo es vielleicht sein mag, dass Agenten einen Großteil der Arbeit übernehmen. Zu dieser Akzeptanz müssen wir erst einmal kommen. Ich bin da zu sehr Techniker. Denn technisch wäre das morgen schon machbar. Es gibt Protokolle und Standards.

Aber es geht nicht nur um Technik, sondern vor allem auch um Vertrauen. Das Vertrauen, dass das System im Interesse aller Teilnehmer handelt. Advertiser müssen bereit sein, Entscheidungen an Agenten abzugeben. Wir werden vielleicht eine Explosion von Agenten sehen, möglicherweise auch bizarre. Diese Experimente sind jedoch wichtig und gut, um Vertrauen aufzubauen.

ADZINE: Damit Agenten überhaupt intelligent handeln können, brauchen sie Trainingsdaten. Woher kommen die in der Adtech-Welt?

Peruzzi: Bei DSPs und SSPs stammen Trainingsdaten aus Transaktionsdaten, also aus dem Bidstream. Daraus lässt sich viel lernen, zum Beispiel über Forecasting oder Bietverhalten. Auf der Buy-Side haben Agenturen und Advertiser ihre Kampagnendaten, auf der Sell-Side die Publisher ihre Ertragsdaten. Je größer der Player, desto mehr Daten sind heute schon vorhanden – das ist ein Vorteil für die Großen. Aber AI entwickelt sich dahin, dass Quantität weniger wichtig wird.

Wer jetzt schon mit agentischen Systemen experimentiert, wird davon profitieren, weil er früh lernt. Agentic Advertising ist kein kurzfristiger Hype, es wird bleiben.

ADZINE: Agentic AI soll Systeme vereinfachen. Wenn aber viele spezialisierte Agenten entstehen, droht dann nicht neue Komplexität?

Peruzzi: Ich gehe davon aus, dass es zunächst eine explosionsartige Entwicklung geben wird, mit vielen Agenten. Danach pendelt sich das wieder ein. Vielleicht starten viele mit einem generischen Agenten, der dann anhand des eigenen Verhaltens weiterlernt. Der Aufwand beispielsweise für den Advertiser bleibt so überschaubar. Wie in der Programmatic-Welt wird sich auch hier eine Konzentration einstellen. Das ist ganz normales Marktverhalten, wie auf Veränderungen reagiert wird.

ADZINE: Das deutsche Werbeökosystem ist ohnehin sehr fragmentiert, mit vielen Playern, Technologien, Kanälen. Kann Agentic AI in so einer Landschaft überhaupt ihr volles Potenzial ausschöpfen?

Peruzzi: Ja, das kann sie. Die Stärke von Standards wie Open RTB war ja, dass sie eine gemeinsame Sprache geschaffen haben. Das TCF hat zum Beispiel das Interesse des Endkonsumenten integriert, und MCP – das Model Context Protocol – bringt nun echte Interoperabilität. MCP ermöglicht, dass Agenten miteinander kommunizieren können, ohne sich vorher zu kennen. Das ist wie der Babelfisch der Adtech-Industrie, die Aufhebung des babylonischen Problems.

Wenn man sich anschaut, wie schnell MCP auf Git Hub angenommen wurde, sieht man, dass die Branche verstanden hat, welche Macht hinter so einem Protokoll steht. Kollaboration wird einfacher und unmittelbarer. Insofern ja, Agentic AI kann ihr Potenzial entfalten, auch im kleinteiligen europäischen Werbekosmos. Das sieht man ja schon an den Innovationen im Raum. Als Europäer schätze ich, dass es einen klaren Rahmen gibt, in dem man sich rechtssicher bewegen kann. Das schafft Vertrauen, gerade in einer neuen, agentischen Welt.

ADZINE: Wie sieht der Werbemarkt der Zukunft aus? Wer profitiert, wer wird überflüssig?

Peruzzi: Lassen wir bei der Diskussion die Ankündigung der Europäischen Union außen vor, dass sie 2026 in den Adtech-Markt genauer reinschauen will und in Richtung Regulierung denkt. Das macht es nämlich ungleich schwieriger eine Aussage zu treffen, weil keiner weiß, ob beziehungsweise wie Regulierung stattfinden und was sie bedeuten wird.

Wenn wir davon ausgehen, dass alles gleich bleibt, stecken wir in zwei, drei Jahren noch mitten in der Transition, weg vom tradierten Verständnis hin zur agentischen Anwendung. Aber in fünf bis sieben Jahren wird sich die Landschaft neu sortiert haben. DSPs und SSPs werden funktional verschoben sein, der Adserver wird wieder wichtiger. Und vielleicht bleibt am Ende vieles wie heute, nur intelligenter.

ADZINE: Und wie lange dauert das, zwei Jahre oder sieben?

Peruzzi: In den USA vielleicht zwei bis drei Jahre. In Europa eher fünf bis sieben. Unsere Veränderungshorizonte sind länger, weil wir darauf bedacht sind, die Menschen mitzunehmen.

ADZINE: Danke für das Gespräch, Tom!

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