ADZINE CONNECT: Die Suche nach dem Betriebssystem für vielfältige Werbung
Anton Priebe, 6. June 2025
Die diesjährige ADZINE CONNECT brachte die unterschiedlichen Vertreter der Werbeindustrie an einen gemeinsamen Tisch. Die Frage, die es zu klären galt: Wie bekommen wir mehr Medienvielfalt in die Mediapläne, um den Effekt der Werbung und vor allem auch die heimische Publisher-Landschaft zu stärken? Deren Stück am deutschen Werbekuchen fällt zunehmend schmaler aus, nachdem sich die Plattformriesen wie Google, Amazon und Meta daran bedient haben – und satt sind die globalen Konzerne noch lange nicht. Dieser Hunger bedroht einerseits die Medienvielfalt und treibt die Advertiser andererseits in die Abhängigkeit der Plattformen. Rund 350 Besucher:innen kamen in Berlin zusammen, um die offenen Fragen gemeinsam mit 60 Referentinnen und Referenten zu diskutieren. ADZINE fasst im Folgenden die Erkenntnisse auf der Konferenz-Bühne zusammen.
Plattformanbieter machen es Werbetreibenden leicht, ihre Budgets effizient auszugeben – zumindest innerhalb ihrer geschlossenen Ökosysteme. Im Gegensatz dazu erfordert unabhängiges Werben im offenen Internet ein hohes Maß an Koordination. Technologie, Daten und Media müssen wie ein Puzzle zusammengesetzt werden. Diese Aufgabe ist unbequem und wird besonders in wirtschaftlich angespannten Zeiten zu einer noch größeren Herausforderung.
Warum die Walled Gardens eine Gefahr für die Medienvielfalt sind
Knapp 72 Prozent der digitalen Werbebudgets in Deutschland fließen laut „Die Mediaagenturen“ zu Google, Amazon und Meta. Den Rest müssen sich die hiesigen Medien untereinander aufteilen. Diese unverhältnismäßige Überinvestition erschwert es den Medien, sich zu refinanzieren. Der Mediaexperte Thomas Koch warnt: “Wenn Zuckerberg in ein paar Jahren die globale Mediaplanung obsolet gemacht hat, gibt es auch keine Vielfalt in journalistischen Angeboten mehr.” Er plädiert grundsätzlich für die Erweiterung der Mediapläne. “Das einzige, was passieren kann, ist, dass die Kampagnen wirkungsvoller werden”, so Koch.
Norman Wagner von Utiq kritisiert ebenfalls heutige Mediaentscheidungen. Elementare Metriken treten in den Hintergrund. Er veranschaulicht dies anhand der fehlenden Ausweisung der Netto-Reichweite durch Plattformen: „Maschinen fehlt der Menschenverstand“, sagt er. So bleibt eine zentrale Frage häufig unbeantwortet: Wie viele Personen, die potenziell das Produkt kaufen könnten, wurden tatsächlich erreicht? Netto-Reichweite sei keinesfalls “retro”, sondern lediglich im Digitalen aus dem Fokus geraten.
Agenturen tragen eine Mitverantwortung an der Monotonie in den Mediaplänen, lassen sich aber nicht den schwarzen Peter zuschieben. Sie haben die Gestaltung der Mediapläne nicht ausschließlich selbst in der Hand, sagt Sabrina Markhoff von Universal McCann. Außerdem ist Vielfalt im Gegensatz zu Effizienz kein Agenturziel, wie Sven Metz von der Digitalagentur Add2 klarstellt, auch wenn er persönlich anderer Meinung sei. Markhoff rät darüber hinaus zu einem differenzierten Umgang mit den Plattformen. Social Media gehören laut der Agenturfachfrau heute fest zum Mediaplan dazu.
Zwischen Souveränität und neuen Abhängigkeiten
Derweil geben die großen Spender in Gestalt von Beiersdorf, Bahlsen und Docmorris auf der Konferenz Einblicke in ihre Methoden, einen sinnvollen und ausgewogenen Mediamix zu kreieren. So zaubert Melissa Manav für Nivea ein KI-gestütztes Marketing-Mix-Modelling aus dem Hut, das ihr zeigt, wie viel Werbegeld in welchen Kanal fließen sollte. Das Modell sei der “Nordstern” für Budgetentscheidungen und lasse sogar Einblicke bis auf Publisher- oder Influencer-Ebene zu. Wer es entwickelt hat, verrät sie nicht.
Carina Specht von Bahlsen plädiert daneben dafür, den Mediaplan nicht “aus Angst vor Abhängigkeiten”, sondern “aus Überzeugung” zu diversifizieren. Sie warnt aber gleichzeitig davor, dass mit vermeintlichen Plattform-Alternativen neue Abhängigkeiten entstehen könnten. Die wertvollen Daten der Retail-Media-Anbieter würden beispielsweise weiterhin in den Silos der Händler verbleiben.
Fortschritte im Open Web – aber nur in Fragmenten
Viele dieser Händler arbeiten aktiv daran, ihre Daten fürs Open Internet nutzbar zu machen. Corinna Hohenleitner vom BVDW zeigt mit ihren Panelisten, dass Commerce Media abseits der klassischen Händler neue Töpfe mit Transaktionsdaten für die Werbung bereitstellt. Denn das grundsätzliche Problem des Open Web sei nicht die Reichweite, sondern die Adressierbarkeit, ist man sich auf der Bühne einig.
Otto schirmt seine Daten inzwischen jedoch konsequent ab und gibt sie nur in Kombination mit eigenem Inventar her. Der Versandhändler betreibt sogar eine eigene DSP und SSP für seinen Werbekosmos. Er bewegt sich damit auf dem schmalen Grat zwischen Kooperation und einem neuen Walled Garden. Obi hingegen setzt auf Data Clean Rooms und hat beispielsweise mit RTL bereits erste Daten-Partnerschaften realisiert. Benjamin Schulz-Adamos appelliert in diesem Zuge an den Mut zum Ausprobieren, anstatt sich hinter dem Ruf nach nötiger Standardisierung zu verstecken. Auch die Telekom will mit T Advertising Solutions zur Stärkung des Publisher-Netzwerks beitragen. Daten allein können das Problem aber nicht lösen. Laut Stephan Jäckel, der mit Emetriq das Projekt anleitet, fehlt es dem offenen Internet weiterhin an einem übergeordneten “Betriebssystem“.
Multichannel als Chance und Herausforderung
Das offene Werbeökosystem braucht mehr Zusammenarbeit, um seine Stärken ausspielen zu können. Eine dieser Stärken ist eben jene Kanalvielfalt, die es so komplex macht. Denn Multichannel-Kampagnen wirken besser, weiß Claudia Rother von The Trade Desk. Sie verweist insbesondere auf das Potenzial von DOOH, Audio und CTV als Ergänzungen abseits der Plattformen. Damit unterstützt sie Thomas Kochs Forderung nach breiter aufgestellten Mediaplänen für mehr Werbewirkung.
Die Multichannel-Werbung bringt jedoch auch Aufklärungsbedarf mit sich. So wird Frank Goldberg vom IDOOH weiterhin nach Klickraten für Außenwerbung gefragt. RMS-Vertreter Matthias Schenk würde sich sicherlich ebenfalls freuen, wenn mehr Marketingverantwortliche wüssten, wie sie seinen “geilen Scheiß” anwenden könnten. Darüber hinaus bleibt Standardisierung ein zentrales Thema. Die Stärke des Marktes – seine Vielfalt und Freiheit – scheint gleichzeitig eine Hürde zu sein. Die individuellen Produkte der Publisher erschweren letztlich notwendige Standardisierung. „Was standardisierbar ist, ist größtenteils schon standardisiert“, sagt Sabine Schmidt von Axel Springer.
Wie lassen sich die einzelnen Bestandteile in ein Ganzes einfügen? Rother propagiert die programmatische Verknüpfung der Kanäle. Daniel Dagehus von der NetID glaubt wenig überraschend an ID-Lösungen, um die vorherrschenden Silos aufzubrechen. Das Verständnis für die Cookie-Alternativen auf Agenturseite sei immerhin vorhanden. Es spiegele sich nur noch nicht in den Mediaplänen wider.
Das Potenzial der eigenen Daten
Wie schwer es ist, wirklich unabhängig zu werben, verdeutlicht auch die Diskussion über den richtigen Einsatz von First-Party-Daten. Bonprix steht vor der Herausforderung, dass seine Bestandskunden “wegschmelzen” und das Neukundenmarketing an seine Grenzen stößt. „Das Problem ist nicht das Geld. Wir schaffen es nur nicht, es effizient genug auszugeben“, bringt Alexander Krull die Lage auf den Punkt.
Lautsprecher Teufel macht ähnliche Erfahrungen. Trotz eng verknüpfter CRM- und Advertising-Systeme führt das begrenzte Budget automatisch zu einer stärkeren Fokussierung auf die Walled Gardens. „Wir sind dort, wo die Conversion-Wahrscheinlichkeit am höchsten ist“, so Nadine Skolaude.
Daten und Technologie für die Werbung im offenen Internet sind durchaus vorhanden. Doch es hapert an der effektiven Aktivierung und Überführung in einen ganzheitlichen Mediaplan. Zahlen des Marketing Tech Lab zeigen zudem, dass viele Unternehmen bereits mit ihrer eigenen Tool-Landschaft überfordert sind. Nur jedes vierte deutsche Unternehmen hat laut einer aktuellen Analyse seine Drei-Jahres-Ziele für digitales Marketing, Vertrieb und Service erreicht. Der Hauptgrund: zu viele Tools. Immerhin glaubt rund ein Fünftel der Unternehmen an seine eigene Unabhängigkeit, inklusive Datenhoheit und technologischer Souveränität.
Effizienz und Nachhaltigkeit Hand in Hand
Angesichts des Fokus auf effizientes Werben und die Einbeziehung der nationalen Medien droht ein Aspekt in den Hintergrund zu treten: Nachhaltigkeit. Grüne Werbung war eines der Top-Themen der jüngsten Vergangenheit und bekam auch bei der ADZINE CONNECT einen prominenten Platz auf der Agenda. Bis 2040 sollen “14 Prozent aller Treibhausgas-Emissionen” auf das Konto von digitaler Infrastruktur gehen, warnt Francois Roloff von Pyure. Doch Kleinanzeigen zeigt bereits, wie mithilfe von Creative-Optimierung, dem richtigen Energiemix und einer sorgfältigen Auswahl der Lieferpfade sowohl effizient als auch umweltfreundlich geworben werden kann. Der Glaube, grüne Werbung sei teurer, scheint sich als überholt zu erweisen.
Mutig sein und mehr Vielfalt wagen
Auch wenn Budgets derzeit kaum spürbar umverteilt werden – das Bewusstsein für die Bedeutung von Vielfalt wächst. Die Diskussion über vielfältige Mediapläne, Plattformabhängigkeiten und nachhaltige Kampagnen zeigt, dass sich die Branche bewegt. Dabei hapert es nicht an Daten und Technologie, am Willen zur Kollaboration oder an “langweiligen” Standards. Es braucht eher mehr Mut zum Experimentieren. Daher abschließend nochmals der Appell: Seid mutig, werbt vielfältiger!
EVENT-TIPP ADZINE Live - SPOTLIGHT: Audio Innovation am 09. September 2025, 11:30 Uhr - 12:15 Uhr
In dieser SPOTLIGHT-Folge nehmen wir Innovationen im Audio-Bereich unter die Lupe. Jetzt anmelden!