Wie KI-Agenten das Commerce-Ökosystem umkrempeln
Karsten Zunke, 26. November 2025Interview mit Todd Parsons, Criteo
Seit zwei Jahrzehnten ist Künstliche Intelligenz der leise Motor hinter Criteos Entwicklung. Anlass genug für uns, bei Todd Parsons, Chief Product Officer von Criteo, nachzufragen, wie er die aktuellen Entwicklungen – insbesondere rund um das Thema Agentic AI – einordnet. Der AI-Experte erläutert, welche strategischen Verschiebungen nötig sind, um als Anbieter künftig von der KI „ausgewählt“ statt „gefunden“ zu werden, welche Rolle Discovery Ads dabei spielen und warum eine neue Commerce-Intelligence nötig ist, damit sich KI-Agenten von Copiloten zu Akteuren im „Agentic Commerce“ entwickeln können.
ADZINE: Todd, KI war ein großes Thema in diesem Jahr. Wo seht ihr aktuell den größten Benefit von KI für die Digital-Marketing-Branche?
Todd Parsons: Der größte Vorteil von KI ist Performance, die auf unterschiedliche Käufertypen zugeschnitten ist: Wir bauen unsere Plattform daher auf ergebnisoptimierter Aktivierung auf, die sich über Kanäle und den gesamten Funnel des Shoppingverhaltens erstreckt, und passen dann die Nutzererlebnisse an. Diese reichen von vollständig KI-gestützter Ausführung bis hin zu agentenunterstützten Workflows mit mehr menschlicher Kontrolle. Indem wir Creatives, Zielgruppenauswahl, Bidding und Messung unter einem einzigen Lernsystem vereinen, erzielen Marketer kumulative Gewinne, nicht isolierte Einzellösungen.
ADZINE: Wie äußerst sich das?
Parsons: Das zeigt sich auf zwei Arten. Erstens in der täglichen Ausführung durch KI-unterstützte Workflows im Self-Service, die einmal aufgesetzt überall optimieren – vom offenen Web über Retail Media und Social bis hin zu CTV. Und zweitens zeigt es sich in der strategischen Beschleunigung: Hier sind insbesondere agentengestützte Kampagnen zu nennen, die Trade-offs in Echtzeit bewerten, um inkrementelle Verkäufe und Lifetime Value zu maximieren. Dazu kommen neu definierte Discovery Ads.
ADZINE: Was ist darunter zu verstehen?
Parsons: Discovery ist der Bereich, in dem KI ihren Wert auch bei Shopperinnen und Shoppern beweist, die eine Marke noch nicht kennen und auch keine direkt beobachtbare Absicht zeigen. Wenn wir jemandem zum ersten Mal ein Produkt vorstellen, gibt es möglicherweise keine historischen Signale zu dieser Nutzerin oder diesem Nutzer.
Unser System leitet das Interesse zum Beispiel ab, indem es den Moment liest: Seiteninhalt, Standort, Gerätekontext und Kohorten-Semantik. Während wir in eine Welt eintreten, in der immer mehr Discovery durch Agenten in KI-Kanal-Umgebungen unterstützt wird, wollen wir ein Reasoning hinzufügen, das das gesamte Kontextfenster des Agenten einschließt. Das geht über die veraltete Vorstellung von Intent hinaus – hin zu einem umfassenderen Modell des implizierten Interesses. Es ermöglicht uns, Produkte mit Menschen in dem Moment zu matchen, in dem die Neugier geweckt wird, nicht erst nachdem sie gesucht haben.
ADZINE: Welche Rolle spielt KI für die Adressierbarkeit von Zielgruppen?
Parsons: KI ist das Bindegewebe für Adressierbarkeit in einer datenschutzorientierten Welt. Anstatt uns zu stark auf einen einzelnen Identifikator zu verlassen, bringen unsere Modelle beispielsweise partielle Signale wie gehashte E-Mails, Retailer-IDs, kontextuelle Merkmale und Verhaltensmuster für ein dauerhaftes Zielgruppenverständnis zusammen. Das ermöglicht es Marketern, adressierbare Zielgruppen zu aktivieren, selbst wenn Identität spärlich vorhanden ist – während gleichzeitig strikte Policy-Durchsetzung und Differential-Privacy-Schwellenwerte eingehalten werden. In der Praxis bedeutet das bessere Reichweite bei voller Einhaltung der Entscheidungen der Menschen, wie sie mit ihren Daten umgehen wollen.
ADZINE: Wie kann KI genutzt konkret werden, um verschiedene Targeting-Signale wie ID-Lösungen und kontextuelle Signale zu kombinieren, um ein optimales Targeting zu erreichen?
Parsons: Optimales Targeting entsteht, wenn KI verschiedene Signale dynamisch nach ihrer Verfügbarkeit und ihrer prädiktiven Stärke gewichtet. Wir normalisieren die Produktbedeutung über Retailer, Marketplaces und Direktverkäufer hinweg und erfassen echtes Shopping- und Kaufverhalten über die gesamte Shopper Journey hinweg. Prädiktive Modelle schließen Lücken, wenn Identifikatoren wegfallen. In KI-Kanal-Kontexten beginnen wir gerade erst, den Wert von Daten aus dem User Memory zu testen, also dem semantischen Faden einer Session oder vieler Sessions, um Angebote mit aktiven Zielen abzugleichen. Das Ergebnis wird eine skalierbare, datenschutzbewusste Personalisierung sein, die selbst in signalarmen Umgebungen funktioniert.
ADZINE: Kann Künstliche Intelligenz auch die Customer Experience entlang der Customer Journey verbessern? Und wo liegen ihre Grenzen?
Parsons: Absolut. KI verwandelt die Customer Journey in eine Abfolge hilfreicher Momente: Discovery, die sich persönlich und inspirierend anfühlt; Evaluation, die Vertrauen schafft: und Checkout, der sich unvermeidlich anfühlt. Generative Tools beschleunigen die kreative Vielfalt und passen Erlebnisse an die Person und den Moment an, online wie im stationären Handel.
Natürlich bleiben erhebliche Grenzen bestehen: Unvorhersehbarkeit von Modellen und Risiken des Datenmissbrauchs untergraben das Vertrauen, wenn sie nicht gemanagt werden. Subsysteme von Agenten, die zusammenarbeiten, müssen Halluzinationen und nachgelagerte Fehltritte vermeiden. Deshalb priorisieren wir Sicherheitsebenen wie Policy Engines, Data Governance und menschliche Aufsicht, um die Entscheidungsfindung von Konsumentinnen und Konsumenten um eine neue Dimension zu erweitern, nicht um sie zu ersetzen.
ADZINE: … aber gleichzeitig verändern sich die Touchpoints. Welche neuen Touchpoints und Marketingstrategien entstehen, wenn KI für Menschen Produkte recherchiert, vergleicht und zum Kauf vorschlägt?
Parsons: Wir bewegen uns von ‚gefunden werden‘ zu ‚ausgewählt werden‘, durch Menschen und durch ihre Agenten. Neue Touchpoints umfassen konversationsbasierte Oberflächen, kaufbare Antworten und On-Site-Copiloten. Die strategische Verschiebung besteht darin, Produktdaten zu strukturieren, diese Dimensionen über sichere Protokolle verfügbar zu machen und Empfehlungen innerhalb von Entscheidungsabläufen nützlicher zu gestalten.
Richtig umgesetzt, werden dynamisch generierte Antworten zur Werbung von morgen. Discovery Ads passen hier natürlich gut hinein. Sie stellen das richtige Produkt vor, selbst ohne vorherige Nutzerabsicht, indem sie Interesse aus Inhalt, Standort und Kohortenattributen ableiten und dann das Kontextfenster des Agenten sowie die Erinnerung der Userin oder des Users dieses Interesse weitertragen lassen, während sie weiter stöbern. Werbung wird zur Orientierung, nicht zur Unterbrechung.
ADZINE: Momentan sind AI-Agenten und Agentic Workflow ein brandaktuelles Thema im Marketing. Welche Rolle werden solche AI-Agenten für den Commerce im Web spielen?
Parsons: AI-Agenten werden sich von Copiloten zu Akteuren entwickeln. Agenten, die von Konsumentinnen und Konsumenten genutzt werden, werden vorschlagen, recherchieren und kaufen; Marken- und Retailer-Agenten werden die Verfügbarkeit validieren, Preise festlegen und ausliefern; Drittanbieter-Agenten werden Qualität und Compliance zertifizieren. Commerce verschiebt sich von Seiten und Klicks hin zu Policies und Protokollen, bei denen Vertrauen und Nachprüfbarkeit darüber entscheiden, wer ausgewählt wird.
ADZINE: Welche Vision habt ihr bezüglich Agentic Commerce?
Parsons: Agentic Commerce definiert Shopping als einen Akt des Delegierens neu. Routinekäufe wie Nachbestellungen, Geschenke oder Reisekomponenten verlagern sich in autonome Abläufe; komplexe Entscheidungen werden zu Mixed-Initiative-Dialogen zwischen Agenten. Die Gewinner werden diejenigen sein, die ihre Daten für die Maschinerie lesbar machen, ihre Policies durchsetzbar gestalten und ihre Ergebnisse messbar halten. Unsere Vision ist ein bei Retailern und Marken verankertes Vertrauen, angetrieben von strukturierter Produkteigenschaften und zusammengehalten durch Standards, die es Agenten ermöglichen, mit Zuversicht zu handeln.
ADZINE: Welche Daten – und vor allem welche technische Infrastruktur – sind dafür nötig?
Parsons: Hier gibt es drei Säulen. Die erste Säule sind strukturierte, Echtzeit-Produkteigenschaften wie normalisierte SKUs, Live-Preise, Verfügbarkeiten, Impact-Scores und vieles mehr. Sichere Aktivierungsschienen sind die zweite Säule, beispielsweise APIs und Protokolle, die regeln, wie Agenten Daten unter expliziten Berechtigungen abfragen, abrufen und darauf reagieren. Das Dritte sind Policy und Measurement. Hier geht es also um Kontrollen auf Zeilen- und Spaltenebene, Kohorten-Schwellenwerte und Outcome-Modelle, die den Kreislauf schließen. Die Vorbereitung beginnt damit, von Seiten zu APIs zu wechseln, von Kampagnen zu Outcomes und von isolierten Datensätzen zu gesteuerter, teilbarer Intelligence.
ADZINE: Wie sollten Marken ihre Ziele und Datenstrategien jetzt anpassen, um in einem Commerce-Ökosystem mit Agentic AI weiterhin sichtbar, relevant und vertrauenswürdig zu bleiben?
Parsons: Sie sollten die Ziele beibehalten – Vertrauen, Relevanz, Wachstum – aber die dahinterstehenden Mechanismen ändern. Sie sollten KI als Kanal behandeln und nicht nur Botschaften für Menschen, sondern auch Daten für Agenten optimieren. Marken und Werbetreibende sollten in Datenhygiene und authentifizierte Metadaten investieren. Sie sollten nachprüfbare Signale veröffentlichen, auf die Agenten sich verlassen können. Und sie sollten Partnerschaften eingehen, bei denen sicherer Zugang zu KI-Ökosystemen mit Ihren Policies übereinstimmt. Sichtbarkeit wird durch Transparenz und Performance verdient, nicht durch Volumen. Wenn die Daten einer Marke Agenten intelligenter machen und die dadurch geschaffenen Erlebnisse sich menschlich anfühlen, werden sie häufiger ausgewählt und zitiert.
ADZINE: Vielen Dank für das Interview, Todd!