Ad Fraud: Milliardenverluste, Brand Safety & Compliance fordern die Branche heraus
Sandra Goetz, 29. September 2025
Ad Fraud gehört seit Jahren zu den größten Problemen der digitalen Werbung. Milliarden Euro oder auch US-Dollar gehen Schätzungen zufolge weltweit durch betrügerische Aktivitäten verloren, während viele Marktteilnehmer das Thema noch immer verdrängen. Der Marketing Tech Summit 2025 in Berlin geht einen anderen Weg und setzt am 30. September ein eigenes Plenum zum Thema auf die Agenda.
Milliardenverluste und bewusste Intransparenz
Die Dimensionen sind dramatisch: Laut dem Marketing Tech Monitor 2025 verursacht Ad Fraud weltweit jährliche Schäden von rund 87 bis 100 Milliarden US-Dollar. Bis 2028 könnte die Summe auf 172 Milliarden anwachsen. In Deutschland fließen diesen Schätzungen zufolge bis zu 30 Prozent der Werbeausgaben in betrügerische Kanäle. Fast die Hälfte der Marketingentscheider bewertet Media Buying als intransparent, nur 37 Prozent der eingesetzten Mittel kommen tatsächlich beim Konsumenten an.
Ralf Strauß warnt
Ralf Strauß, Managing Partner beim Marketing Tech Lab und Chairman of the Board der Europäischen Marketingverbände, war zuvor unter anderem Präsident des Deutschen Marketing Verbands (DMV), Senior Vice President für Digitalisierung, Marketing und Vertrieb bei Volkswagen beziehungsweise Leiter Marketing bei SAP. Er gilt als einer der profiliertesten Marketingstrategen in Deutschland.

Für ihn ist Ad Fraud ein systemisches Versagen: „Der Elefant steht im Raum. Alle wissen um das Problem, aber kaum jemand will es wirklich anpacken. Am Ende werden Millionen in betrügerische Netzwerke gespült, während Unternehmen so tun, als sei es nur ein kleines Abfallprodukt.“ Strauß wundert sich über die Untätigkeit vieler Verantwortlicher: „Wenn ein Unternehmen nur eine halbe Million in ein sauberes Setup zur Bekämpfung von Ad Fraud und die Absicherung von Brand Safety investiert, rechnet sich das in kürzester Zeit. Trotzdem wird das Thema aufgeschoben. Damit werfen Unternehmen sehenden Auges 50 Prozent ihrer Budgets Betrüger in den Rachen. Dass man so Milliarden verbrennt und trotzdem nicht handelt, liegt meist an den komplexen Handlungsfeldern.“
Die aktuelle Umfrage anlässlich des Marketing Tech Summit 2025 zeigt: Nur rund zehn Prozent der Unternehmen sehen sich beim Thema Ad Fraud und Brand Safety gut aufgestellt.
Berlin: Ad Fraud auf dem Heißen Stuhl

Im Plenum „Heißer Stuhl: Ad Fraud … Die neuen KI-basierten postmodernen Raubritter“ diskutieren Experten über die Dimension des Problems. Die Moderation übernimmt Michael M. Maurantonio, Consulting Partner der H.O.T. AG und international ausgewiesener Ad-Fraud-Forensiker. Auf dem Podium sitzen außerdem Nico Winkelhaus, Head of Digital Marketing bei Payback, und Dr. Christian Hahn, Leiter Marketing Kommunikation & Media bei der Deutschen Telekom. Von der Debatte erhofft man sich Klartext. „Wir müssen endlich aufhören, Ad Fraud als Randthema wegzuschieben“, sagt Ralf Strauß. „Ein kontroverses Format wie der Heiße Stuhl kann helfen, Transparenz zu schaffen über den Schaden, als auch mögliche Lösungsansätze.“
„Ad Fraud wird selten offen adressiert, weil zu viel Halbwissen kursiert und weil es unbequem ist“, ergänzt Maurantonio. „Wer offen spricht, gilt als Panikmacher oder muss eingestehen, dass Budgets fehlgeleitet werden. Aber wir reden nicht über ein paar Prozent Media Waste, sondern über Milliardenverluste und massive Reputationsrisiken.“
Die ungeliebten Zwillinge: Compliance & Brand Safety
Ad Fraud ist mehr als der Verlust von Werbegeldern. Es bedroht die Markensicherheit, indem Budgets in Umfelder fließen, die mit den Werten von Unternehmen unvereinbar sind, von Fake News bis hin zu extremistischen Plattformen. „Fehlgeleitete Werbung finanziert nicht nur Bot-Netzwerke, sondern auch toxische Inhalte. Das Risiko ist strategisch und betrifft die gesamte Unternehmensführung“, betont Maurantonio.
Auch intern bleibt das Problem oft unbearbeitet. „Am Ende ist es auch ein Compliance-Thema“, sagt Ralf Strauß. „Wenn Werbung auf extremistischen Websites ausgespielt wird, ist das kein Kavaliersdelikt.“
KI verschärft die Lage

Michael Fuhrmann, RVP DACH & CEE bei Doubleverify, verweist auf eine zweigeteilte Entwicklung: „Sophisticated Invalid Traffic ist weltweit um sieben Prozent zurückgegangen, in EMEA sogar um 33 Prozent. Gleichzeitig steigt General Invalid Traffic um 86 Prozent – vor allem durch KI-Crawler und Scraper.“ Mit Sophisticated Invalid Traffic (SIVT) meint Fuhrmann Bots und Methoden, die tatsächlich zum Betrügen entwickelt wurden. Dazu gehören beispielsweise Ad Stacking, Proxy-Traffic oder Domain Spoofing. General Invalid Traffic (GIVT) bezieht sich zwar auf “gutartige” Bots, verursacht aber dennoch wertlose Impressions für Maschinen, wenn sie nicht aussortiert werden. Beide gemeinsam sind unter dem Label Invalid Traffic (IVT) zusammengefasst.
Während der gezielte Betrug hierzulande insgesamt zurückgeht, gilt besonders der boomende CTV-Markt als neues Einfallstor für SIVT. „In Deutschland verzeichnen wir an Spitzentagen einen Anstieg der Betrugsversuche um bis zu 900 Prozent. Grund sind die hohen Preise für Premiuminventare, die böswillige Akteure anziehen“, so Fuhrmann. Weitere Benchmarks zeigen das Ausmaß. Der aktuelle Global Insights Report von Doubleverify weist im CTV-Bereich einen dominierenden Anteil von Bot-Fraud aus. Viele Marketer geben an, dass sie einen erheblichen Teil ihrer CTV-Budgets als wirkungslos betrachten.
Und so geht es „fröhlich“ weiter: Fraud0 ermittelt für Q2 2025 eine Invalid-Traffic-Rate von knapp 18 Prozent im Web und fast 29 Prozent in Mobile Apps. Pixalate meldet im selben Zeitraum IVT-Raten von bis zu 24 Prozent auf mobilen Apps in Nordamerika und rund 18 Prozent im CTV-Bereich.

Auch Christina Ballhorn, Head of Programmatic beim Programmatic-Spezialisten Highfivve, warnt: „Ad Fraud hat in den letzten Jahren nicht nur quantitativ zugenommen, sondern auch qualitativ eine neue Dimension erreicht. Die Betrüger sind heute extrem professionell und wissen genau, wie sie etablierte Systeme austricksen können. Für uns als Vermarkter bedeutet das: Es wird immer schwieriger, die wahre Quelle des Betrugs aufzuspüren.“
Sie beschreibt das Katz-und-Maus-Spiel: „Bei vielen Tools ist URL-Blocking wie Unkraut jäten. Heute blockiert man eine Domain, morgen taucht dieselbe Quelle leicht verändert wieder auf.“ Noch gravierender sei der Reputationsschaden: „Stellen Sie sich vor, Sie besuchen zum ersten Mal eine Website und landen direkt auf einer Porno-Seite. Dieses Erlebnis prägt sich ein. Für Publisher kann ein einziger Betrugsfall verheerend sein.“
Verena Gründel fordert mehr Transparenz

Die Dmexco, das als wichtigstes Branchenevent in Deutschland gilt, hat dem Thema Ad Fraud auch 2025 keinen eigenen Programmslot gewidmet. Verena Gründel, Brand & Communications Director, erklärt: „Ad Fraud betrifft die gesamte Branche. Deshalb behandeln wir es nicht separat, sondern binden es auf verschiedenen Bühnen ein, etwa wenn es um KI, Ethik oder Brand Safety geht.“
Gleichzeitig war Ad Fraud in Köln klar sichtbar. Bereits im Messeflur zu den Hallen 6, 7 und 8 machte ein übergroßes Werbemittel von Pixalate auf das Kernthema Ad Fraud aufmerksam. Das Unternehmen aus Kalifornien war mit einem großen Stand in Halle 6 vertreten und präsentierte aktuelle Benchmarks.
Gründel appelliert an die Werbetreibenden: „Advertiser müssen von allen Partnern vollständige Reportings und transparente Verträge einfordern. In vielen Verträgen ist nicht einmal vermerkt, welche Daten sie einsehen dürfen. Wer den Finger in die Wunde legt, kann den größten Hebel ansetzen, um Veränderungen durchzusetzen.“
Der Elefant bleibt im Raum
Ad Fraud ist kein Randphänomen, sondern Ausdruck massiver krimineller Energie. Milliarden aus Werbebudgets landen in Kanälen, die Fake News, Pornoseiten, Gewaltinhalte oder extremistische Plattformen finanzieren. Marken riskieren damit nicht nur den Verlust von Reichweite, sondern auch, ihre Produkte in Umfeldern wiederzufinden, die ihrem Image direkt schaden.
Die Zahlen sind eindeutig, die Stimmen aus der Branche ebenso. Es ist höchste Zeit, dass Ad Fraud offen adressiert wird. Es gibt genügend Events, die eine Bühne bieten könnten. Der Marketing Tech Summit setzt 2025 ein Zeichen. Für 2026 bleibt zu hoffen, dass weitere Branchentreffen nachziehen und vielleicht sogar eine Keynote oder ein Panel auf der Dmexco dem Thema den Platz einräumt, den es verdient. Ad Fraud gehört in den Mittelpunkt der Agenda. Als eigenständiges Thema und nicht zwischen KI, Ethik, CTV oder Retail Media versteckt, wo es leicht zur Nische wird. Anbieter wie Pixalate zeigen mit ihrer Präsenz, dass die Branche dafür bereitsteht.
Und ja, es stimmt: Ad Fraud betrifft in erster Linie das offene Internet, vor allem dort, wo Werbeinventar programmatisch gehandelt wird, etwa im Bereich Display oder Mobile. Auch im CTV-Umfeld bestehen Risiken, je nachdem ob das Inventar im offenen Internet oder innerhalb von Walled Gardens wie Youtube, Amazon Prime Video oder Netflix angeboten wird. In den Walled Gardens insgesamt ist das Problem weniger sichtbar, weil die Plattformen ihre Systeme selbst kontrollieren und unabhängige Prüfungen kaum zulassen. Dennoch fehlt es auch hier an Transparenz. Solange Budgets nicht klar nachvollziehbar eingesetzt werden, bleibt der Elefant im Raum bestehen – und mit ihm einer der größten Stolpersteine für das digitale Ökosystem.
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