Lineares TV – eines der letzten Bollwerke gegen die Megaplattformen?
Anton Priebe, 27. Mai 2025
Der größte Bildschirm im Haus ist hart umkämpft. Was früher klar das Terrain der klassischen Broadcaster mit ihrem linearen Programm war, wird heute zunehmend auch von den globalen Tech-Plattformen für sich beansprucht. Mit dem Vormarsch von Connected TV (CTV) in der Mediennutzung drängen die Googles und Amazons dieser Welt auf den Big Screen und zielen damit auch auf klassische TV-Budgets ab. In Deutschland und dem übrigen Europa befindet sich das lineare Fernsehen zwar in der Hand lokaler Anbieter, doch der Druck wächst – und mit ihm der Innovationsbedarf.
Was unter „TV“ verstanden wird, ist längst nicht mehr eindeutig. Während die Broadcaster unter dem Begriff nach wie vor das klassische lineare Signal verstehen (das heute fast ausschließlich ebenfalls digital übermittelt wird), definieren die Tech-Plattformen es als Big Screen und meinen damit CTV, also Bewegtbildinhalte über das Internet. „Die damit verbundene Absicht ist klar“, so Ricarda Jebsen, Geschäftsführerin der Freiburger Adtech-Gruppe und Prosiebensat1-Tochter Virtual Minds. „Es geht darum, klassische TV-Budgets zu den großen Streamingplattformen zu ziehen.“
Dabei hat das klassische TV gerade im Vergleich mit den Plattformen viel zu bieten.
Zwischen Entlastung und Entertainment

Andrea Zenner, Managing Partner, Head of Video Development & Expertise von der Agenturgruppe Groupm, betont die bleibenden Qualitäten des linearen Fernsehens: hochwertiger Content, professionell produziert und in einer entspannten Nutzungssituation konsumiert. Anders als bei Streamingplattformen, wo man sich aktiv durch Inhalte klicken müsse, biete das lineare TV eine Form der “kognitiven Entlastung”.
Zudem habe das klassische Fernsehen seine festen Fans, vor allem bei Formaten mit Live-Charakter, wie Sportübertragungen oder großen Shows. Gerade in diesen Kontexten sei das Publikum besonders aufmerksam und emotional eingebunden.
Glaubwürdigkeit statt Fake News

“Connected TV bringt die Megaplattformen inzwischen auch auf den größten Screen im Haus – den Fernseher. Und doch bleibt das lineare Fernsehen eines der letzten souveränen Medienumfelder, das Marken selbstbestimmte Sichtbarkeit ermöglichen kann”, meint Maria Riecke-Katsoulas, CDO von der Video-Performance-Marketing-Agentur Lead Link. Das lineare Fernsehen bietet aus ihrer Sicht etwas, das vielen Plattformen abgehe: Vertrauen. „Lineares TV steht für Reichweite mit Relevanz, hohe Glaubwürdigkeit und klare redaktionelle Einbettung – in einer Medienlandschaft, die zunehmend von algorithmischer Fragmentierung geprägt ist.“ Für Marken, die sich langfristig positionieren und für Verantwortung stehen wollen, sei das ein strategischer Vorteil.
Während Plattformwerbung oft auf kurzfristige Performance ausgerichtet ist, bleibe das Fernsehen ein klassisches Vertrauensmedium. Genau das sei heute ein Wettbewerbsvorteil. In Zeiten von Fake News, sogar auf dem höchsten internationalen Parkett, trifft sie damit den Nagel durchaus auf den Kopf.
Programmatischer Zugang wird breiter
Doch der Druck auf die Broadcaster schwillt an. Für Ricarda Jebsen ist klar: Wenn sie im Werbemarkt weiterhin relevant bleiben wollen, müssen die Broadcaster ihr lineares Angebot digital anschlussfähig machen. Nur wenn das TV plan-, buch- und steuerbar wird – am besten programmatisch –, könne es im Mediamix dauerhaft bestehen, glaubt Jebsen.
In puncto Zugänglichkeit hat sich bereits viel getan, weiß Andrea Zenner. Große Teile des TV-Inventars sind mittlerweile programmatisch über Demand-Side-Plattformen (DSP) buchbar. Die Expertin nennt als Beispiele das vollständig verfügbare Seven-One-Inventar sowie große Teile des Ad-Alliance-Portfolios über Active Agent – auch wenn einzelne Sender wie Vox (noch) außen vor bleiben. Visoon biete sein Welt-Inventar außerdem über andere DSPs an. Allerdings sei der aktuelle Zugang zum TV-Inventar oft nur bedingt steuerbar (an der Stelle hält Visoon-Chef Michael Möller im Interview übrigens dagegen).
Nachholbedarf aufseiten des linearen TV
Die Agenturfachfrau sieht gerade bei den Leistungskennzahlen Nachholbedarf. Noch dominiere der Bruttokontakt als Media-KPI. Eine echte Netto-Reichweitensteuerung befinde sich im Aufbau, ebenso wie eine Konvergenz der Messmethoden, um digitale und TV-Kontakte gemeinsam bewerten zu können. “Derzeit wird so getan, als sei jeder TV-Kontakt gleichwertig – was Studien jedoch widerlegen”, meint Zenner.
Dessen sind sich natürlich auch die Infrastrukturanbieter bewusst. “Das Thema Planung und Steuerung von linearen und konvergenten Bewegtbildkampagnen mit Echtzeitdaten wird im Wettbewerb mit den Megaplattformen zu einem ganz entscheidenden Erfolgsfaktor werden”, ist Ricarda Jebsen überzeugt. Sie sieht an der Stelle konkrete Vorbilder: “In Österreich können wir sehen, wie die klassischen TV-Häuser diese Herausforderungen für den gesamten Markt angenommen und mit einer innovativen Planungsgrundlage erfolgreich umgesetzt haben.” Dahin solle sich auch der deutsche Markt bewegen.
Das hiesige lineare Fernsehen braucht sich aber keinesfalls zu verstecken und holt in anderen Belangen auf. Maria Riecke-Katsoulas verweist abseits des programmatischen Zugangs auf technische Fortschritte wie HbbTV, hybride Planungsmodelle oder Response-Messung via Haushaltsdaten. In Kombination mit First-Party-Daten lasse sich so ein integrierter Marketing-Funnel aufbauen – unabhängig von den Regeln der Plattformanbieter.
Souveränität durch Kooperationen
“Ich denke, die deutschen Broadcaster arbeiten bereits an vielen richtigen Themen – insbesondere technische Lösungen, um Bewegtbild ganzheitlich zu denken”, ist Andrea Zenner überzeugt. Die Zeichen dafür stehen gut, denn die aktuelle geopolitische Lage verleihe europäischen Tech-Anbietern neue Relevanz. Es brauche nun vor allem stärkere Kooperationen unter den nationalen Anbietern.
Für Zenner liegt die Zukunft des linearen Fernsehens aber nicht nur in der technischen Weiterentwicklung, sondern auch in der Haltung. TV müsse seine klassischen Stärken Transparenz, Qualität und Glaubwürdigkeit konsequent bewahren und ausbauen. Gerade diese Werte seien im digitalen Raum immer seltener zu finden und deshalb umso wichtiger.
Das lineare TV muss also gar nicht Google, Amazon oder Netflix imitieren, sondern in ein modernes digitales Tech-Ökosystem überführt werden, ohne dabei seine Stärken zu verlieren. So wirft es sein Gewicht erfolgreich mit in die Waagschale gegen die Plattformdominanz.
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