Identity und First-Party-Daten – Wie steuert die Werbeindustrie auf die cookielose Zukunft zu?
Anton Priebe, 12. August 2022Personalisierte Werbung benötigt ein Fundament aus Daten. Third-Party-Cookies wurden bislang häufig als verknüpfendes Element zwischen Datensätzen genutzt, doch sind sie ein Auslaufmodell. Die Debatte um das Schwinden der Third-Party-Cookies wurde erst kürzlich wieder aufgeheizt, nachdem Google seine Deadline für deren Einsatz in Chrome erneut nach hinten verschoben hatte. Die Privacy Sandbox und damit eine Alternative für Targeting mithilfe von Drittanbietercookies kommt doch erst 2024. Ein Grund, sich zu entspannen? Au contraire, meint Joanna Burton, Chief Strategy Officer des Identity-Anbieters ID5. Es gehe nicht darum, nur Chrome im Blick zu haben, sondern das Problem Identity im Digital Advertising als Ganzes zu lösen. Im Interview gibt Burton einen Überblick über die aktuelle Situation auf Buy- und Sell-Side und verrät, worauf es jetzt ankommt, um die “ID-Krise” in den Griff bekommen.
ADZINE: Hi Joanna, vor einem Jahr haben wir bereits über das Thema Identity gesprochen und du sagtest, dass es ein Problem sei, das Adtech lösen muss. Wie ist Adtech dabei vorangekommen?
Joanna Burton: Die Adtech-Branche hat erhebliche Fortschritte bei der Bewältigung der Identity-Krise gemacht, vor allem in Deutschland, aber es liegt noch ein langer Weg vor uns. Obwohl Chrome als einziger adressierbarer Browser gilt und die Abschaffung von Cookies für 2024 geplant ist, ist die Krise für einige Player im Jahr 2022 immer noch Hintergrundrauschen. Viele sind sich nicht bewusst, wie lange der Migrationsprozess zu einer cookielosen Infrastruktur dauert, der von der Evaluierungsphase bis zur Anpassung der KPIs bis zu acht Monate in Anspruch nehmen kann.
Ihnen ist nicht klar, dass Identity nicht nur ein Problem ist, das in der Zukunft gelöst werden muss, sondern auch eine wertvolle Chance, die jetzt ergriffen werden sollte. Die Abschaffung der Cookies von Drittanbietern in Chrome steht so sehr im Mittelpunkt des Interesses, dass viele Unternehmen die Tatsache ignorieren, dass sie Identity-Technologien schon heute nutzen könnten, um mehr Nutzer in Browsern ohne Cookies zu erreichen. Diese machen in Deutschland 40 Prozent des Traffics aus.
Trotzdem wurden in den letzten 12 Monaten auf der Sell-Side beeindruckende Fortschritte erzielt. Insbesondere ist unser Publisher-Footprint in Deutschland im letzten Jahr gewachsen. Die Publisher testen natürlich aktiv verschiedene Identifier-Technologien und integrieren sie, um sich auf die cookiefreie Zukunft vorzubereiten.
Auf der anderen Seite geht es auf der Buy-Side langsamer voran. Nichtsdestotrotz haben wir bei ID5 viele globale DSPs integriert, die einen bedeutenden Marktanteil in Deutschland haben. Wir arbeiten auch mit Agenturgruppen und großen globalen Marken zusammen. Wir erwarten, dass diese im Jahr 2023 schnell wachsen werden.
ADZINE: Wie hat sich das Thema Identity speziell auf der Mediaeinkaufsseite weiterentwickelt? Sind Advertiser global immer noch zögerlich und abwartend, was die Integration von IDs betrifft?
Burton: Die Werbetreibenden machen Fortschritte, vor allem in Europa und in Deutschland, aber wie gesagt insgesamt in einem langsameren Tempo. Es ist nicht so, dass Marken nicht gewillt sind, alternative IDs zu integrieren – es ist eher so, dass viele sich der Möglichkeiten nicht bewusst sind, die sie sich heute entgehen lassen, indem sie bei Chrome den Tunnelblick beibehalten und sich auf alte, Cookie-basierte Technologien von Drittanbietern verlassen.
Ein wesentlicher Grund für das Zögern ist zudem, dass Adtech-Partner oft noch nicht die notwendigen Schritte unternommen haben, um Kunden die Nutzung alternativer Identity-Lösungen zu ermöglichen. Um das Beste aus der adressierbaren Werbung herauszuholen, sollten Marken heute und in Zukunft mit ihren Adtech-Partnern sprechen und darauf pochen, dass sie sich mit den nötigen Tools und Lösungen ausstatten.
ADZINE: Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht betont wird, wie wichtig First-Party-Datenstrategien für die Zukunft sind, sowohl für Mediaein- als auch -verkäufer. Wie ist der aktuelle Stand in der Praxis? Stehen die nötigen Infrastrukturen dafür schon?
Burton: In den meisten Fällen wird die Nutzung von First-Party-Datenstrategien als einer der besten Ansätze zur Vorbereitung auf eine cookielose Welt angesehen. Viele Publisher sammeln aktiv so viele First-Party-Daten wie möglich, um ihre Audience für Werbetreibende wertvoller zu machen. Marken tun dasselbe, in der Hoffnung, ihre First-Party-Daten in Abwesenheit von Drittanbieter-Cookies aktivieren zu können.
Der Ansatz der First-Party-Daten ist in Verbindung mit anderen Strategien wirksam, sollte aber nicht als einzige Lösung für Identity herangezogen werden, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Es ist nicht möglich, First-Party-Daten ohne einen Drittanbieter-Mechanismus nahtlos weiterzugeben. Das liegt daran, dass die First-Party-Daten der Domain gehören, die sie gesammelt hat. Ohne einen Mechanismus zur gemeinsamen Nutzung können First-Party-Daten nur über Direct Deals zwischen Werbetreibenden und Publishern genutzt werden. Das ist einer der Hauptgründe, warum die Branche schon so lange Cookies von Drittanbietern verwendet, um Erst- und Drittanbieterdaten zwischen verschiedenen Parteien auszutauschen.
Sich nur auf First-Party-Datenstrategien zu verlassen, ist kein sehr skalierbarer Ansatz für Werbetreibende, insbesondere für globale Marken. Es ist eine Strategie, die innerhalb der Walled Gardens gut funktioniert, da sie über mehr First-Party-Daten verfügen als die gesamte Industrie zusammen. Darüber hinaus ist es für Werbetreibende sehr ressourcenintensiv, genügend Sell-Side-Daten zu sammeln, um die erforderliche Größenordnung und Leistung zu erreichen.
Die gute Nachricht ist, dass Werbetreibende und Publisher heute einen datenschutzfreundlicheren und effizienteren Mechanismus zur Aktivierung von First-Party-Daten nutzen können: Universal IDs.
ADZINE: Ihr habt erst kürzlich mit deutschen Adtech-Unternehmen und Agenturen zusammen ein Test-Setup aufgebaut. Worum ging es da genau und was ist dabei herausgekommen?
Burton: Wir arbeiten mit verschiedenen zukunftsweisenden Partnern in Deutschland zusammen, die Pionierarbeit bei der Umstellung auf cookielose IDs leisten. Kürzlich haben wir mit Virtual Minds, Ströer, OS DS und der Agentur Mediascale an einer Kampagne gearbeitet, um die Effektivität der ID5-ID zu beweisen, und haben die Auswirkungen auf die Kampagnenleistung dokumentiert.
Es wurde ein A/B-Test mit Safari, Firefox, Edge und Chrome durchgeführt, bei dem zwei verschiedene Datensegmente verwendet wurden: eines mit der ID5-ID und das andere mit Cookies von Drittanbietern. Der Test wurde zunächst mit der DSP Active Agent von Virtual Minds und den Zielgruppen von OS DS in allen wichtigen SSPs vom 16. bis 27. Februar 2022 durchgeführt. Anschließend wurde der Test mit einer anderen Aufstellung, nämlich nur mit der Ströer SSP, fortgesetzt.
Die Ergebnisse zeigen, dass Virtual Minds, Ströer und OS Data Solutions die Werbereichweite in allen relevanten Browsern um bis zu 78 Prozent erhöhten und einen um etwa 10 Prozent niedrigeren TKP für den Werbetreibenden in Browsern ohne Cookies im Vergleich zu Chrome erzielten, indem sie die ID5-ID anstelle von Drittanbieter-Cookies nutzten.
ADZINE: Das klingt nach einem Etappensieg! Welche siehst du als die Kernpunkte an, um Identity weiter voranzutreiben?
Burton: Es gibt drei wichtige Punkte, die dazu beitragen können, Identity voranzutreiben und in eine positive Richtung zu lenken:
Bildung – damit die Branche tätig werden kann, müssen alle Player verstehen, worum es geht und welche Chancen sie heute verpassen. Dies ist ein Paradebeispiel für die cookielose Gegenwart. Wie bereits erläutert, verpassen viele Marken die Möglichkeit, eine größere Reichweite und einen höheren ROI zu erzielen, indem sie heute cookielose ID-Technologien nutzen. Das Gleiche gilt für Publisher. Auch wenn die Akzeptanz auf der Angebotsseite generell höher ist, gibt es immer noch viele Publisher, die sich die Ansprache von Safari- und Firefox-Traffic entgehen lassen. Bildung ist der Schlüssel, um Identity voranzutreiben. Werbetreibende und Publisher sollten sich über vertrauenswürdige Publikationen und Veranstaltungen an Gesprächen in der Branche beteiligen und sich die Ergebnisse ansehen, die andere Unternehmen nach der Arbeit mit Cookieless-Lösungen gemessen haben.
Zusammenarbeit – es gibt keinen einzelnen Player, der die Identity-Krise allein lösen kann. Wir müssen zusammenarbeiten, um einen dauerhaften Wandel herbeizuführen und eine neue, effizientere Infrastruktur aufzubauen, die ein sich ständig veränderndes Ökosystem zukunftssicher macht. Sprechen Sie unbedingt mit Ihren Technologiepartnern, um herauszufinden, welche Lösungen sie integrieren, entwickeln und bereitstellen können.
Handeln – in Anbetracht der ersten beiden Punkte muss die Branche noch heute Maßnahmen zum Thema Identity ergreifen. Abgesehen davon, dass man es verpasst, den Safari- und Firefox-Datenverkehr zu adressieren, ist es keine Lösung, abzuwarten, was alle anderen tun, da man Gefahr läuft, unvorbereitet in die nächste Phase zu gehen. Es ist von entscheidender Bedeutung, Technologien jetzt zu testen und einzuführen, um herauszufinden, welche Lösungen für Sie und Ihr Unternehmen am besten geeignet sind, um Ihre Werbebudgets optimal zu nutzen und Ihre Zielgruppen heute und in Zukunft effektiv anzusprechen.
Deutschland gehört in allen drei Punkten zu den führenden Ländern, aber es gibt noch mehr zu tun, bevor der Cookie 2024 zerbricht.
ADZINE: Danke für das Interview, Joanna!
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