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Von der Krise zum Comeback: Die Treiber der Erholung des ukrainischen Werbemarktes

Nickolas Rekeda, 29. Oktober 2025
Bild: Yurii Khomitskyi - Unsplash

Klar, ein Smartphone haben wir immer dabei, wenn wir vor die Türe gehen. Aber ein Tourniquet? Solch ein Abbindesystem zur Blutstillung gehört ebenso wie das Smartphone zu meiner persönlichen Ausstattung, wenn ich das Haus in Kiew verlasse. Denn es kann Leben retten – nicht nur meins. Sicherheit geht schließlich vor – für Teams, für Familien, für das Geschäft und für die Branche. Schnell und flexibel auf neue Anforderungen zu reagieren, ist in der Ukraine keine Option, Agilität ist schlicht eine Notwendigkeit. Diese Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Erholung des ukrainischen Werbemarktes nach dem Ausbruch des Krieges und zeichnet die Treiber des Aufschwungs aus.

Arbeiten nach zwei Zeitplänen

Dabei hat nicht nur die ukrainische Werbebranche schnell gelernt, nach zwei Zeitplänen zu arbeiten: einmal nach dem normalen Kalender und dann nach dem Sirenen-/Blackout-Kalender. Wir haben Approvals in Schutzräumen erteilt und wichtige Produktlaunches auf die Nachtstunden verlegt, wenn das Stromnetz weniger stark belastet ist. Durch den Aufbau einer redundanten Stromversorgung und Konnektivität haben wir sichergestellt, dass die Ausspielung von Werbekampagnen nicht mit dem nächsten Stromausfall endet. Diese Disziplin hat die kreative Arbeit und die Werbewirtschaft in der Ukraine am Laufen gehalten.

Uptime als Mediakennzahl

Dabei war das Jahr 2022 anders als alles, was ich bisher erlebt habe – sowohl als Mensch als auch in meiner Funktion als CMO. Die Ausgaben für digitale Werbung haben sich damals von etwa 12,3 Mrd. Hrywnja auf 6,25 Mrd. halbiert – mit Monaten, in denen sie im Vergleich zu 2021 um 80 bis 50 Prozent zurückgingen. Die Budgets waren das eine. Zum anderen mussten wir in dieser Zeit neu lernen, überhaupt arbeiten zu können: mit Kampagnenstarts mitten in der Nacht, Quality Assurance (Qualitätssicherung) in winzigen Connectivity-Fenstern und einer redundanten Stromversorgung sowie Netzwerkredundanz für jeden kritischen Schritt. Wir haben Pause/Resume-Regeln aufgestellt und die Uptime gemessen, als wäre sie eine Mediakennzahl. In diesem Jahr wurden nicht nur die Werbeausgaben drastisch gesenkt, sondern die gesamte Werbebranche wurde umgestaltet.

Beyond Money

Dabei ging es nicht darum, die Gewinn- und Verlustrechnung zu schützen, sondern es ging um den Schutz unserer kreativen Klasse. Denn wenn Budgets verschwinden, zählen die Menschen zu den ersten Opfern. Die kreative Klasse der Ukraine – Planer, Designer, Redakteure und Engineers – sah sich plötzlich mit Einkommensverlusten und Unsicherheit konfrontiert. Außerdem haben sich viele freiwillig bei den ukrainischen Streitkräften gemeldet. Alles in allem waren dies sehr komplexe Umstände, die die Branche dazu gezwungen haben, sich neu zu organisieren.

Dann ging vieles ganz schnell, und wir haben viele Herausforderungen auf einmal angepackt. Wir haben beispielsweise Talente in Remote-Netzwerke im Ausland umgruppiert oder das Equipment und den Strom unter unseren Teams geteilt. Die Entscheidung, Kampagnen weiterlaufen zu lassen, war nicht nur kommerziell motiviert, sondern diente dazu, unsere kreative Mittelschicht intakt zu halten, damit der Werbemarkt überhaupt existieren kann.

Die Erholung beginnt und sie gelingt

Im Jahr 2023 kamen die Budgets und der Markt zurück, ein Aufatmen war zu spüren – insgesamt ging es um 14,6 Mrd. Hrywnja. Und Video war das Zugpferd. Warum gerade Bewegtbild? Weil der Kontext eine große Rolle spielte. Im linearen TV lief ein Marathon aus Nachrichten und Kriegsberichterstattung und auch die sozialen Feeds bestanden fast nur aus Politik und Updates zum Krieg. Die Menschen suchten aber auch nach weniger anstrengenden Inhalten, um sich für eine Weile von der Realität abzulenken – was schon immer eine große Leistung des Big Screen war, als Zufluchtsort vom Alltag, an dem man sich mit TV-Inhalten ablenken und ein stressiges Leben für einige Momente hinter sich lassen kann.

Wer als Werbetreibender eine TV-ähnliche Reichweite in einer kontrollierten, sichereren Entertainment-Umgebung wollte, kaufte CTV/OTT. Also planten wir CTV und Online-Video als ein System mit gemeinsamer Frequenz und derselben Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit.

Warum SSAI im Live-TV der Game Changer war

Ein entscheidender Moment dieser innovativen Entwicklung war die Server-Side Ad Insertion (SSAI) für zielgerichtete Werbung im Live-TV. Plötzlich verfügten wir über eine Reichweite im TV-Maßstab, die sich wie digital verhielt. Wir konnten die Frequenz kontrollieren, die Brand Safety durchsetzen und Segmente ohne fragile Geräte-IDs abgleichen. In einem volatilen Umfeld bot uns die SSAI eine stabile, adressierbare Basis für den Mediaeinkauf auf dem Big Screen.

Die aktuelle Situation und wie sich das Wachstum verteilt

Bis 2024 stiegen die Ausgaben für digitale Werbung auf 18,19 Mrd. Hrywnja – ein Plus von 24 Prozent im Jahresvergleich. Dabei entwickelte sich CTV mit etwa 982 Mio. Hrywnja zu einer echten Budget-Line, was etwa 17 Prozent der gesamten Ausgaben für Video entspricht. Mobile blieb mit etwa 70 Prozent der Impressions der wichtigste Screen für Aufmerksamkeit. Der E-Commerce erlebte mit ca. 239 Mrd. Hrywnja Online-Ausgaben und rund 11 Mio. Käuferinnen und Käufern ein starkes Comeback.

Das alles war kein zufälliger Aufschwung, sondern wurde durch die Umverteilung der Ausgaben auf CTV und Mobile möglich, wo die Aufmerksamkeit auch bei Ausfällen erhalten bleibt und Qualität messbar ist. Das Wachstum kam also nicht von allein – es basierte auf messbaren Effizienzsteigerungen innerhalb der gesamten Lieferkette, einschließlich Agenturen, Plattformen, Supply, Identity und Telco.

Welche Erkenntnisse sich daraus ableiten lassen

Die Ukraine ist kein Sonderfall, sondern ein Stresstest. Die Optimierungen waren auf Recoverability ausgerichtet, mit rollierenden 48-Stunden-Plänen statt starrer Quartalspläne. Wir haben CTV und Online-Video als ein System geplant, Aufmerksamkeit/Sichtbarkeit eingekauft und SSAI für die Adressierbarkeit genutzt. Programmatic wurde zur Logistik mit PMP für Kontrolle und Open Auction für Skalierbarkeit, mit SPO zur Supply-Verkürzung und mit Third-Party Verification, um die Qualität positiv konstant zu halten. Beim Measurement sind wir zu einer „Portable Truth“ übergegangen mit First-Party-Daten, einer kontextbezogenen/modellierten Reichweite sowie Experimenten und MMM – weil Last-Click unter Stress versagt. Und wir haben gelernt, dass Ethik Wirtschaft ist: Öffentliche Whitelists und Kontextregeln schaffen Vertrauen, und Vertrauen setzt Budgets frei.

Tech Finder Unternehmen im Artikel

Bild Nickolas Rekeda Über den Autor/die Autorin:

Nickolas Rekeda ist Chief Marketing Officer (CMO) der globalen Werbeplattform MGID und Vorstandsmitglied des IAB Ukraine. Mit mehr als 14 Jahren Erfahrung in führenden Marketingpositionen bringt er einen vielfältigen Hintergrund mit, der kreative und Media-Agenturen, Markenmanagement im FMCG-Bereich, Medien und Ad-Tech umfasst. Bevor er zu MGID kam, war Nickolas Rekeda Vice President of Marketing bei VertaMedia und Adtelligent Inc., wo er maßgeblich zur internationalen Expansion und Innovationsförderung beitrug. Im Laufe seiner Karriere leitete er den Start von mehr als zehn internationalen Marken und Projekten in der Ukraine, den USA, der EU und Israel. Neben seinen beruflichen Erfolgen engagiert er sich intensiv in ehrenamtlichen Initiativen, die digitale Kampagnen nutzen, um Bewusstsein zu schaffen, Desinformation zu bekämpfen und humanitäre sowie Verteidigungsunterstützung für die Ukraine zu leisten.

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