Das zersplitterte Bewegtbild und die Suche nach dem richtigen Mediamix
Anton Priebe, 21. Oktober 2025
Seit Jahren zeigt die Entwicklung im Bewegtbild nur in eine Richtung: aufwärts. Doch die Videolandschaft ist zugleich fragmentierter denn je. Lineares Fernsehen trifft auf Streaming über Connected-TV-Plattformen, Social Videos auf dem Smartphone, digitale Stelen am Straßenrand und programmatische Spots im Kino. Jedes Format folgt eigenen Regeln, Nutzungssituationen und Messlogiken. Für Media-Strategen stellt sich daher die Frage, wie sich all das zu einem wirksamen Ganzen verbinden lässt. ADZINE hat sich im Vorfeld der ADZINE CONNECT VIDEO in der Agenturszene umgehört, wie ein moderner Planungsansatz aussieht und worin er sich von klassischer Bewegtbildplanung unterscheidet.
Vom Kanaldenken zum Nutzerfokus

Robert Buendge von Publicis sieht den Wandel in der Planung als notwendige Antwort auf verändertes Konsumverhalten. „In einer Zeit, in der Konsumenten Bewegtbildinhalte über eine Vielzahl von Geräten und Plattformen konsumieren, ist es essenziell, eine holistische Bewegtbildplanung zu verfolgen.“ Die klassische, kanalzentrierte Mediaplanung erfolge häufig silobasiert und ohne Berücksichtigung von Wechselwirkungen. Der holistische Ansatz setze hingegen “auf die komplementäre Verknüpfung der individuellen Stärken der einzelnen Kanäle”. Im Klartext: Gut wird die Kampagne unter anderem dann, wenn Schwächen in der Zielgruppenerreichung eines Kanals gezielt durch andere Kanäle ausgeglichen werden. Als Beispiel nennt der Agenturfachmann das Auffangen der unterdurchschnittlichen Ansprache jüngerer Zielgruppen im linearen TV durch digitale Videokanäle.

Doch der holistische Ansatz endet nicht beim Einsatz von bestimmten Kanälen für unterschiedliche Zielgruppen. Christopher Przyborowski von Carat Deutschland versteht darunter die Planung entlang der gesamten Customer Journey. “Holistische Videoplanung stellt das Nutzerverhalten in den Mittelpunkt – unabhängig vom Kanal”, so der Experte. Der klassische Mediaplanungsansatz arbeitet kanalzentriert und verteile die Budgets starr nach Mediagattungen. “Dagegen ist holistische Planung dynamisch, wirkungsorientiert und dort präsent, wo Bewegtbild konsumiert wird – ob auf dem Smartphone, TV, im Kino oder im Out-of-Home“, sagt Przyborowski.

Diesem Fokus ihrer Mitstreiter auf die Nutzer:innen folgt Britta Brumbach von Unbound Media: “Eine holistische Videoplanung setzt an der Schnittstelle zwischen Zielgruppe und Customer Journey an.“ Entscheidend sei, zu verstehen, wen man erreichen möchte und wo im Funnel sich diese Zielgruppe befindet. Daraus leite sich die Kanalwahl ab. So sei beispielsweise das lineare TV weiterhin für Reichweite und Awareness stark, während digitale Formaten stärker auf Consideration und Conversion einzahlen.
Fragmentierung und Reichweite in Silos

Wie gelangen Planer:innen mit all diesen Erkenntnissen nun zum richtigen Mediamix? Wenn man Thorsten Decker von der Omnicom Media Group Germany fragt, lautet die Antwort zunächst schlicht: „Gar nicht.“ Dann schränkt er ein: „Zumindest nicht, solange alle weitermachen wie bisher.“ Gemeint ist damit, dass crossmediales Bewegtbild heute noch viel zu oft „allein über einen simplen zentralen KPI wie Nettoreichweite“ geplant wird. Wer daran glaube, „verschließt die Augen vor der Realität. Diese Realität heißt leider immer noch Fragmentierung.“
Denn die Vielzahl an Plattformen bringt jeweils eigene Messsysteme, KPIs und Auswertungslogiken mit sich. „Lineares TV und einzelne Anbieter liefern Reichweite über AGF, jedoch ist nie das gesamte Videoinventar umfasst“, sagt Britta Brumbach von Unbound Media. „Auch DSPs erfassen nicht alle Inventare.“ Robert Buendge von Publicis Media bestätigt diese Diagnose: „Die konsolidierte Ausweisung von Reichweiten über verschiedene Kanäle hinweg bleibt eine Herausforderung, da ein einheitlicher Marktstandard derzeit nicht existiert.“
Um Überschneidungen zu vermeiden und Reichweitenverluste zu verringern, braucht es daher intelligente Steuerungsmechanismen. Die Lösung sieht Brumbach in einer datengetriebenen Strategie: „Durch den gezielten Einsatz von zielgruppenspezifischen Daten, kanalübergreifendem Targeting und Frequency-Management können Kampagnen effizient gesteuert und Mediabudgets optimal eingesetzt werden.“ So lasse sich Reichweite optimieren und Fragmentierung zumindest teilweise überbrücken. Ein Puzzle bleibt es dennoch.
Integration von Datenquellen
Um dieses Puzzle zu lösen, kombiniert Publicis verschiedene Datenquellen in einem hybriden Ansatz. Die AGF und ihre Datensätze bleiben im linearen TV-Bereich relevant, sagt Buendge. Ergänzend liefern ACR-basierte Technologien (Samsung, Samba TV) zusätzliche Einblicke in die tatsächliche Nutzung, ebenso Quellen wie All Eyes on Screens oder die Telekom. Nielsen oder Audience Project können für de-duplizierte Digitalreichweiten genutzt werden. „Elementar ist die darauf aufbauende Zusammenführung von linearem TV mit Digital Video und die Herausrechnung der jeweiligen Überschneidungen“, so Buendge. „Data Clean Rooms ermöglichen eine datenschutzkonforme Zusammenführung von Nutzerdaten und schaffen Transparenz über Kanäle hinweg.“
Przyborowski sieht in solchen Brücken noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht. “Was aktuell fehlt, ist eine Technologie, die non-lineare digitale und lineare klassische Kanäle wirklich integriert”, mahnt er. Während die Planungsoptionen längst kanalübergreifend seien, würden Messbarkeit und Optimierung hinterherhinken. “Eine Single Source of Truth wäre der entscheidende Schritt, um vollständig holistisch zu werben”, sagt Przyborowski.
Neue Maßstäbe für die Kanalauswahl
Wie wählt man angesichts der Fragmentierung in der Videolandschaft also konkret aus, welche Kanäle Teil einer Kampagne werden? Thorsten Decker pocht auf die Berücksichtigung der Wahrnehmung und Wirkungsbeiträge von unterschiedlichen Elementen wie linearem TV, Streaming-Plattformen oder Social Video. „Eine Lean-back-Nutzung auf dem Fernseher hat eine völlig andere Wirkung als ein Lean-forward Moment auf dem Smartphone. Ein kurzer Bumper auf dem Smartphone kann niemals mit einem 30-Sekunden-Spot im Big-Screen-Umfeld gleichgesetzt werden“, warnt der Experte.
Brumbach versucht dennoch die zentralen Kriterien für die Auswahl der passenden Kanäle zu formulieren: Reichweite, Kontaktqualität und die Passung des Umfelds zur Markenbotschaft. Doch auch sie sagt im gleichen Atemzug, dass mit der zunehmenden Fragmentierung andere Faktoren wie die Datenverfügbarkeit, technische Standards und die Vergleichbarkeit von KPIs an Bedeutung gewinnen. Dazu sei die Bewertung der Werbewirkung unabdingbar. Branchenkollege Robert Buendge bestätigt: „Die reine Reichweite ist über Kanäle hinweg nicht vergleichbar, weil sich die Werbewirkung je nach Nutzungskontext und Format stark unterscheidet.“ Publicis Media arbeitet daher mit sogenannten outcome-basierten Kennzahlen, bei denen Reichweitenkurven je Kanal um Attention, ROI oder Werbewirkung adjustiert werden. „So entsteht eine fundierte Entscheidungsbasis für die Budgetallokation, unter Berücksichtigung von Kanalüberschneidungen und Wirkungseffizienz.“
Bei der Omnicom entstehe ein belastbarer Mix ebenfalls nicht aus “Zahlenspielerei”, sondern aus einem klaren, strukturierten Entscheidungsprozess, von der Zielsetzung über Qualitäts- und Kontextfaktoren bis hin zur ökonomischen Bewertung. “Erst am Ende folgt die konkrete Kanalauswahl. Alles andere bedeutet: das Pferd von hinten aufzäumen”, sagt Decker.
Automatisierung ist kein Allheilmittel
Automatisierung und der zunehmende Anschluss an das Programmatic-Ökosystem gelten vielerorts als Heilsbringer für die Zersplitterung. Doch Decker warnt vor überzogenen Erwartungen: “Programmatische Systeme und automatisierte Buchungen können enorme Effizienzgewinne ermöglichen, aber nur, wenn sie mit einheitlichen Metriken gefüttert werden. Automatisierung ohne Standardisierung ist wie ein Navi ohne Karte – man fährt zwar los, kommt aber kaum ans richtige Ziel.“
Solange es keine gemeinsamen Standards gibt, bleibe alles Stückwerk. „Jeder Anbieter optimiert nach seiner eigenen Logik, die Folge ist nicht nur weitere Fragmentierung, sondern reines Chaos. Wenn jeder seine eigene Währung prägt, gibt es keine Vergleichbarkeit, keine Transparenz und keine Planbarkeit." Erst wenn die Branche sich auf gemeinsame Bewertungsgrundlagen einigt, könnten automatisierte Systeme ihr Potenzial wirklich entfalten. "Die Branche steht deshalb vor einer Entscheidung: Entweder wir schaffen jetzt einheitliche Bewertungsgrundlagen und ein transparentes Regelwerk oder wir stürzen endgültig in ein Bewegtbild-Chaos, in dem jeder seine eigene Wahrheit verkauft und Marken jegliche Orientierung verlieren”, prophezeit Thorsten Decker.
Orientierung durch Standards
Wer in der fragmentierten Videowelt den passenden Mediamix finden will, muss die vielen Elemente miteinander verzahnen. Holistische Planung ist keine Phrase, sondern Voraussetzung, um Markenbotschaften wirkungsvoll zu inszenieren. Wer Wirkung erzielen will, muss also kanalübergreifend denken, datenbasiert steuern und konsistent messen. Die Messmöglichkeiten und Vergleichswerte sind jedoch ebenso fragmentiert wie ihre Umgebungen, weshalb weiter gepuzzelt werden muss.
Brumbach, Buendge, Przyborowski und Decker eint trotz unterschiedlicher Perspektiven ein gemeinsamer Nenner: Erfolg entsteht nicht durch den Einsatz einzelner Tools oder Plattformen, sondern durch Zusammenspiel, Transparenz und gemeinsame Standards. Thorsten Decker fasst zusammen: „Der richtige Bewegtbild-Mix ist kein Rechentrick und kein Algorithmus-Zauber. Er entsteht nur durch gemeinsame Anstrengung zwischen Kunden, Agenturen und der Branche insgesamt.“
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