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Was Psychografie für Contextual Targeting leisten kann

Anton Priebe, 9. September 2025
Bild: Marek Pavlík – Unsplash

Mit dem Ausschleichen der Third-Party-Cookies aus dem Werbeökosystem ist das kontextuelle Targeting wieder stärker ins Rampenlicht gerückt. Doch es ist mitnichten mit dem klassischen Umfeld-Targeting aus den 2000ern zu vergleichen. Heute ist Contextual weitaus intelligenter und wird konsequent weiterentwickelt. Das Start-up True Relevance konzentriert sich mit dem psychografischen Targeting auf eine besondere Spielart der kontextuellen Zielgruppenansprache. Die Lösung der Hamburger analysiert die Motivationen und Haltungen, die hinter Inhalten stehen. Im ADZINE-Interview erklären Gründer Joost van Treeck und Chief Growth Officer Jörg Vogelsang, warum Psychografie in der Werbung eine Rolle spielt und wofür sie konkret eingesetzt werden kann.

ADZINE: Hallo Joost, hallo Jörg, Contextual Targeting ist unserer Leserschaft sicherlich ein Begriff. Was aber verbirgt sich hinter der Psychografie und warum ist sie für die Zielgruppenansprache relevant?

Bild: True Relevance Jörg Vogelsang, True Relevance

Jörg: Psychografie beantwortet die Frage nach dem „Warum“. Klassische Segmentierungen basieren auf Demografie oder Verhaltensdaten, sagen aber wenig darüber aus, warum Menschen handeln, wie sie handeln. Ohne Motivation und innere Haltung zu verstehen, erreicht man Zielgruppen im Onlinemarketing nur oberflächlich. Psychografie steigert die Relevanz durch ein tieferes Verständnis. Beispiel Waschmittel: Haushaltsführende mit gleichem Einkommen und Alter kaufen Ariel oder Frosch. Psychografisch sind das völlig unterschiedliche Gruppen. Mit psychografischem Verständnis machen wir diese Unterschiede sichtbar und passen das Targeting an. So erreichen wir die jeweils passenden Zielgruppen ganz genau im passenden Kontext mit der dann genau passenden Botschaft.

ADZINE: Ihr sprecht in diesem Zusammenhang von neun psychografischen Mustern. Wie belastbar und wissenschaftlich fundiert sind diese Modelle in der Werbepraxis? Kommen sie nicht ursprünglich eher aus ganz anderen Disziplinen?

Joost: Unsere Modelle beruhen auf bewährten Grundlagen der Persönlichkeits- und Motivationsforschung, die seit Jahrzehnten in der Psychologie etabliert sind. Darauf aufbauend haben wir mit unserer ersten Gründung Cronbach seit 2017 ein System psychografischer Zielgruppenanalysen entwickelt. Gemeinsam mit Marken wie Polestar, Telekom oder Burger King konnten wir diese wissenschaftlichen Erkenntnisse in praktisch nutzbare Definitionen für die Werbung übersetzen. True Relevance wird von Psycholog:innen mitentwickelt und setzt konsequent auf wissenschaftliche Fundierung statt auf oberflächliche „Neuro-Buzzwords“. Die neun psychografischen Typen sind kein theoretisches Konstrukt, sondern ein Werkzeug, um die Komplexität menschlicher Motivation in ein einfach anwendbares Modell für Kampagnen zu überführen – fundiert, skalierbar und wirksam.

ADZINE: Welche Technologie ist für psychografisches Targeting notwendig und an welchen Signalen dockt ihr konkret an? Inwiefern unterscheidet sich das letztlich von klassischen Behavioral-Targeting-Ansätzen?

Bild: True Relevance Joost van Treeck, True Relevance

Joost: Unsere KI-Lösung besteht aus Modulen, die wir für Targeting optimiert haben. Ein eigenes neuronales Netz, von Psychologen trainiert, analysiert die psychologische Grundhaltung hinter Inhalten: Innovation, Nachhaltigkeit, Sicherheit, Status oder Gemeinschaft. Ein Bundesliga-Spiel erreicht in der 11Freunde andere Menschen als im Kicker. Unser Ansatz ist Next Generation Contextual Targeting. Das System ist inzwischen präziser als ein Psychologe. Wir analysieren nicht nur Themen wie „Auto“, sondern die „Vision“ hinter dem E-Auto: Ein Corsa-e ist etwas anderes als ein BMW iX. Das ist eine neue Dimension gegenüber semantischen oder Keyword-Analysen und ein Fortschritt gegenüber Behavioral Targeting. Wir benötigen keine Nutzersignale, sondern analysieren den semantischen Kontext: Artikel, Bilder, Videos oder Podcasts, Sprache und emotionale Assoziationen. Der Unterschied: Behavioral Targeting analysiert vergangenes Verhalten, wir analysieren den aktuellen Kontext. Unser Privacy-First-Ansatz macht auch No-Consent-Traffic wieder nutzbar – verlorene Reichweiten von Safari, Firefox & Co. werden vollständig targetierbar.

ADZINE: Ihr setzt dabei auf KI in Form neuronaler Netze. Ein großer Vorbehalt mit Blick auf KI ist die mangelnde Transparenz, wie die Maschine Entscheidungen trifft. Bleibt auch psychografisches Targeting eine Blackbox?

Jörg: Nein. Unsere Ergebnisse sind jederzeit transparent einsehbar – wir können genau aufzeigen, welche psychografischen Muster in einem Text erkannt wurden. Der Prozess basiert auf klar definierten psychologischen Modellen und folgt den Prinzipien etablierter Forschung. Die KI ist für uns lediglich das Werkzeug, um diese Modelle in Echtzeit und großem Maßstab anzuwenden. Im Gegensatz zu vielen Behavioral-Algorithmen, die auf statistischen Korrelationen beruhen, arbeiten wir mit einem ursächlichen Modell. Das bedeutet: Wir wissen nicht nur, dass ein Inhalt für eine bestimmte Zielgruppe relevant ist – wir können auch erklären, warum das so ist. Das schafft nicht nur bessere Ergebnisse, sondern auch ein tieferes Verständnis für Zielgruppen.

ADZINE: Für psychografisches Targeting braucht es ähnlich wie bei anderen Contextual-Ansätzen weder Consent noch Cookie oder alternative IDs. Bedeutet das, dass Publisher oder Vermarkter vor allem den Traffic veredeln können, der bisher unter Wert verkauft wird?

Jörg: Genau. Mit dem Wegfall der Third-Party-Cookies verliert Inventar an Wert, weil es nicht mehr personalisiert angesprochen werden kann. Wir geben Publishern die Möglichkeit, anonymen Traffic zu monetarisieren, indem sie ihm psychografischen Wert zuweisen. Sie können Inventar nicht nur nach Keywords, sondern nach Relevanz verkaufen. Ein Finanzartikel kann zum Beispiel eventuell auch an sicherheitsorientierte oder innovationsfreudige Profile vermarktet werden. Marken können auch in themenfremden Umfeldern werben: Ein Premium-Auto passt eventuell zu einem Artikel über Designerhäuser, ein Budget-Car zum Thema Food-Prepping. So erschließen Publisher neue Kunden und Werbetreibende neue Zielgruppen. Der Traffic gewinnt an Relevanz. Das stärkt das Open Web gegenüber Walled Gardens. Publisher können die Qualität ihrer Inhalte in monetarisierbare Segmente übersetzen und ihre Content-Strategien schärfen.

ADZINE: Ihr propagiert „Relevanz statt Datenmasse“. Aber dieses Versprechen hört man seit Jahren von vielen Anbietern. Was genau ist euer Hebel, damit Advertiser eure Lösung nutzen und nicht doch zu den bekannten Alternativen greifen?

Joost: Übliche Methoden ordnen Content in grobe Kategorien wie „E-Auto“ oder „SUV“. Doch genau das führt zu falschen Gleichsetzungen: Ein BMW iX taucht gleichzeitig in beiden Buckets auf – und wird damit in eine Schublade gesteckt, in der er kaum von einem Opel Corsa-e unterscheidbar ist. In der Realität sprechen diese Fahrzeuge jedoch völlig unterschiedliche psychografische Profile an: hier Luxus, Status und technologische Innovation – dort pragmatische Nachhaltigkeit und Alltagstauglichkeit. Diese feinen Unterschiede gehen in traditionellen Klassifikationen verloren.

Unser Ansatz geht tiefer: Wir analysieren Inhalte nicht nur thematisch, sondern auch psychografisch. So entsteht echte Relevanz – wissenschaftlich fundiert, KI-gestützt und ohne IDs oder Cookies.

ADZINE: Könnte euer Ansatz perspektivisch auch in Kanälen wie Connected TV, Audio oder Außenwerbung Anwendung finden?

Jörg: Ja, hier liegt großes Potenzial. Ein Werbespot im Connected TV kann mehr als Demografie ansprechen. Mit unserer Lösung erkennen wir psychografische Profile. Persönlichkeit ist ein verlässlicherer Parameter für Marken- und Produkt-Matching. Unsere Methode ist eine Blaupause für kanalübergreifendes Targeting. Unsere Targeting-Segmente lassen sich übergreifend in Display, CTV, Audio oder Digital Out of Home nutzen. Die Logik funktioniert bei visuellen Signalen und Audio genauso. Die Herausforderung ist, die spezifischen Signale jedes Mediums präzise zu entschlüsseln: Bilder, Soundeffekte, Sprecher, Musik.

ADZINE: Was ist für euch die größte Herausforderung, wenn es um die Skalierung eurer Lösung geht?

Jörg: Überzeugungsarbeit. Viele Marketer denken in soziodemografischen Kästchen und verlassen sich auf verhaltensbasierte Daten. Wir müssen zeigen, dass es einen besseren, datenschutzkonformen und effektiveren Weg gibt. Das erfordert Aufklärungsarbeit und Cases. In meiner Arbeit im IAB Europe und BVDW habe ich gesehen, wie wichtig offene Standards sind. Wir müssen beweisen, dass unsere Lösung die Zukunft ist. Technologisch sind wir gut aufgestellt, entscheidend ist die Veränderung der Denkmuster. Es geht darum, Vertrauen in einen neuen Weg aufzubauen.

ADZINE: Zum Abschluss eine ethische Frage: Beim psychografischen Targeting könnte man auch von Manipulation sprechen. Greift ihr mit eurem Ansatz in die Psyche der Konsumenten ein? Wie begegnet ihr diesem Vorwurf?

Joost: Nein. Manipulation bedeutet, Menschen zu Handlungen zu verleiten, die sie nicht wollen. Wir tun das Gegenteil: Wir identifizieren Inhalte, die zu Interessen und Haltungen passen. So übertragen wir das Feingefühl eines guten Einzelhändlers in die digitale Welt. Eine Art „Tante-Emma 2.0“, die weiß, welche Produkte Herrn Meier oder Frau Müller interessieren. Wir ermöglichen passgenaue Ansprache, die informiert statt nervt – ohne Cookies oder IDs. Ziel ist, Vertrauen zurückzugewinnen, keine irrelevanten Botschaften mehr zuzumuten und auf Verfolgung zu verzichten. Unser Ansatz ist transparent, da wir keine persönlichen Daten nutzen, sondern nur Inhalte analysieren. Das unterscheidet uns von Methoden, die Surfverhalten ausspähen. Wir schaffen eine harmonische Beziehung zwischen Marke und Konsument, indem wir Kommunikation relevanter machen. Das ist das Gegenteil von Manipulation – es ist ein guter Match.

ADZINE: Danke für das Interview!

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