Einfach, skalierbar, performant: Das Open Web muss sich nicht verstecken
Anton Priebe, 15. September 2025
Während die hiesigen Werbebudgets weiter munter die Megaplattformen füttern, positioniert sich das offene Internet längst als skalierbare, standardisierte und performante Alternative. Daher lässt Alwin Viereck, VP Product Management von United Internet Media, auch das Argument der Einfachheit in der Bedienung, das Big Tech bislang stets ins Feld führte, nicht mehr gelten. ADZINE hat mit Viereck in seiner Rolle als Vertreter des Online-Vermarkterkreis (OVK) und Organisator des Online Ad Summit (OAS) über das offene Internet im Vergleich mit den großen Werbeplattformen gesprochen. Auf dem OAS diskutieren die Teilnehmer:innen am Vortag der Dmexco in Köln darüber, wie starke Alternativen zu den internationalen Plattformen im Detail aussehen müssen und nationale Marktanteile zurückgewonnen werden können.

ADZINE: Google, Meta und Amazon sichern sich die Hälfte der deutschen Werbegelder. Ein Grund dafür sind deren geschlossene Ökosysteme mit ihrer Reichweite, Mess- und Adressierbarkeit. Alwin, was kann das offene Internet dem entgegensetzen?
Alwin Viereck: Da gibt es viele Aspekte: Einfachheit, Skalierung, Performance und Qualität. Programmatic Advertising war die Antwort des Open Webs auf die Skalierung der Walled Gardens. Früher wurden Insertion Orders geschlossen, dann hat sich Programmatic etabliert, um Reichweite automatisiert zu buchen. Man muss hier unterscheiden zwischen Mediennutzungszeit und Netto-Reichweite. Die Mediennutzungszeit konzentriert sich zwar auf wenige große Angebote, aber bei Netto-Reichweite muss sich das offene Internet nicht verstecken.
Dazu kommt, dass wir durch programmatische Mechanismen sehr zielgerichtete, datengetriebene Kampagnen ermöglichen. Performance ist also kein Alleinstellungsmerkmal der Plattformen. Mit dem Ende des Third-Party-Cookies haben wir neue Wege gefunden, Adressierbarkeit über deterministische Identifier oder Publisher-seitig angebotene Audiences sicherzustellen. Wir sind, getrieben durch technische Veränderungen der Gatekeeper, in ein Tal gekommen und mussten uns neu sortieren. Aber dieses Tal ist durchschritten und wir haben heute Addressability-Lösungen, die den Ansprüchen an Skalierung, Reichweite und Einfachheit genügen. Daneben ist Qualität ein Pfund, das das Open Web einbringen kann. Über all das werden wir auch auf dem Online Ad Summit sprechen.
ADZINE: Einfachheit war bislang immer ein Argument für die Walled Gardens. Die Plattformen machen es sehr leicht, Werbegeld auszugeben. Bei Facebook zum Beispiel kann jemand eine Anzeige schalten, der sich mit Online-Werbung überhaupt nicht auskennt.
Viereck: Da muss ich dir grundlegend widersprechen. Die Welten unterscheiden sich gar nicht mehr. Walled Gardens haben natürlich “owned and operated inventory”. Für Werbetreibende ist das einfacher, weil man nur mit wenigen großen Portalen arbeitet.
Aber auch im Open Web lässt es sich über DSPs sehr einfach einkaufen. Technisch tun sich die Self-Service-Tools der DSPs und die Plattformlösungen nicht mehr viel. Natürlich muss man sich mit mehr Domains auseinandersetzen, aber dafür bekommt man neben der gewünschten Reichweite Zielgruppenvielfalt, Mediendiversität und Qualität. Man darf nun nicht glauben, dass man im offenen Internet auf zehntausenden Seiten blind einkaufen kann, ohne Qualitätsmedien zu selektieren. Im OVK-Universum etwa sprechen wir von rund 1.000 hochwertigen Seiten, die sich sehr gut selektieren lassen.
ADZINE: Helfen Vermarkter-Allianzen und ID-Initiativen dabei, Budgets im heimischen Markt zu halten?
Viereck: Der Abschied vom Cookie war ein Web-Thema, aber wir leben längst in einer Multi-Device-Realität: App, Web, Smartphone, TV. Dafür braucht es Alternativen wie die IDs, die wir heute abseits des alten Cookies nutzen.
Heute sehen wir die Anwendung von ID-Lösungen, neue Mechanismen zur datenschutzkonformen Datenanwendung oder auch den Einsatz von Login-Lösungen wie Federated-Credential-Management (FedCM). Publisher bieten wieder verstärkt Audiences an. Hinzu kommt der Einsatz von KI, insbesondere Machine Learning für Zielgruppenmodellierung.
ADZINE: Wie genau verändert sich die Rolle der Publisher im Audience-Geschäft und welche Rolle spielen die angesprochenen KI-Mechanismen?
Viereck: Die Rolle der Publisher im Audience-Geschäft wird wichtiger, weil Advertiser ihre Zielgruppen datenschutzkonform erreichen wollen. Früher kamen Audiences fast ausschließlich von Third-Party-Providern auf Basis von Cookies, heute können Publisher Segmente direkt anbieten, etwa über DSPs und ihre Data Marketplaces oder SSPs mittels Kuratierung. Das ermöglicht Advertisern Reichweite und Skalierung.
Dazu kommen neue Mechanismen, die Multi-Device-Nutzung viel besser abbilden. Neben deterministischen IDs spielen zunehmend KI, Algorithmen und Machine Learning eine Rolle, um Zielgruppen zu erschließen und zusätzliche Skalierung zu schaffen. Es geht also nicht mehr darum, weitere ID-Lösungen zu entwickeln, sondern bestehende ID- und KI-Lösungen in der Praxis einzusetzen und damit zu skalieren.
ADZINE: Gehen Publisher-seitige Audiences in Richtung Curation?
Viereck: Curation kann ein Teilrezept dessen sein. Media-Curation gibt es übrigens schon lange, neuer ist hingegen die Audience- oder Data-Curation. Publisher können jedoch auch unabhängig davon über programmatische Mechaniken Audiences bereitstellen, etwa über Pre-Targeted Deals.
ADZINE: Gut, an welcher anderen Stelle besteht im Open Web aktuell am meisten Bedarf für Standardisierung?
Viereck: Standardisierung ist die Grundvoraussetzung für die Finanzierung einer vielfältigen Medienlandschaft via digitalen Advertising. Die digitale Werbelandschaft, auch aus Deutschland heraus, hat hier in den vergangenen Jahren stark mitgewirkt, sei es bei Privacy oder Addressability Frameworks. Die DSGVO und das TDDDG haben die Branche dazu gezwungen, Standards zu entwickeln, die international bei zehntausenden Publishern adaptiert wurden, wie beispielsweise das Transparency und Consent Framework (TCF). Jetzt geht es weniger darum, den nächsten Privacy- oder Addressability-Standard zu definieren, sondern neue Herausforderungen im Bereich KI anzugehen.
Im Bereich KI haben wir es mit Bots der großen LLM-Anbieter von Diensten wie Open AI, Google, Perplexity oder Anthropic zu tun, die Publisher-Inhalte crawlen. Dafür brauchen wir Standards bei Transparenz – wer kommt vorbei? –, Kontrolle – wer darf was? – und Monetarisierung – wie wird das Konsumieren der Inhalte durch LLMs vergütet? Wenn LLM-Bots Publisher-Inhalte ohne Gegenleistung nutzen, gefährdet das die Geschäftsmodelle der Publisher. Deshalb wird Content-Nutzung durch KI-Systeme in den kommenden Jahren ein Schwerpunkt der Diskussion und Standardisierung werden müssen.
ADZINE: Treiben Advertiser diese Standardisierung aktiv voran?
Viereck: Advertiser müssen Standards nicht selbst entwickeln, sondern sie vor allem unterstützen. Ihnen kommt dabei meist die Aufgabe zu, ihr Commitment für eine demokratische Medienlandschaft durch gezielte Budgetallokation zu zeigen. Standardisierung, welche die digitale Werbebranche, unter anderem bestehend aus Vermarktern, Technologieanbietern und Verbänden wie BVDW oder dem IAB Tech Lab, schafft, dient dann den Werbetreibenden am Ende des Tages dazu, ihre Werbebotschaft in dieser pluralistischen Medienlandschaft zu platzieren und Konsumenten für sich zu gewinnen.
Advertiser sollten dabei klar ihre Bedürfnisse formulieren und die Entwicklungen unterstützen. Es bringt nichts, wenn Lösungen im Elfenbeinturm entwickelt werden und am Markt vorbeigehen. Commitment, Mitgestaltung und Vertrauen in die Qualität und Innovationskraft des Open Webs sind entscheidend. Die Advertiser sind damit nicht die Treiber der technischen Details, aber sie haben die Macht, Standards durch ihre Investitionen beziehungsweise Werbebudgets zu fördern.
ADZINE: Steht Innovationskraft nicht zwangsläufig im Konflikt zur Standardisierung?
Viereck: Nein, ganz im Gegenteil. Die Branche war schon immer hochdynamisch. Innovationen wie Programmatic Advertising haben neue Standards hervorgebracht, die wiederum Wachstum ermöglicht haben. Standardisierung ist kein Hemmschuh, sondern ein Erfolgsfaktor.
Ein aktuelles Beispiel aus dem Bereich KI ist das Model Context Protocol (MCP). Es ermöglicht, LLMs jegliche Datenquellen verständlich zugänglich zu machen. Das zeigt, dass selbst mitten in einer Innovationswelle Standards entstehen, weil sie notwendig sind, um Technologie nutzbar und skalierbar zu machen. Häufig bilden sich De-facto-Standards, noch bevor eine Standardisierungsorganisation offiziell tätig wird. Ohne Standards können Innovationen nicht langfristig erfolgreich sein.
ADZINE: Danke für das Interview, Alwin.
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