Während des steilen Falls der Third-Party-Cookies haben sich ID-Lösungen als mögliche Alternative für die Werbeindustrie herauskristallisiert. Sie sollen die Drittanbieter-Cookies zwar nicht direkt ersetzen, aber grundlegende Funktionen für das Advertising übernehmen. Im Vorfeld der ADZINE CONNECT beleuchtet ADZINE einige der Lösungen am Markt und setzt sich mit der Frage auseinander, ob sie das Vehikel für die künftige Digitalwerbung sein können.
Vielfalt der ID-Lösungen
Bei der Betrachtung der unterschiedlichen IDs am Markt lässt sich zunächst einmal festhalten, dass sie nicht gemeinsam in einen Topf geworfen werden können. “‘ID-Lösung’ ist nicht ‘ID-Lösung’“, sagt Uli Hegge, CEO der European NetID Foundation, folgerichtig. Die NetID wurde 2018 von der Mediengruppe RTL Deutschland, ProSiebenSat.1 und United Internet ins Leben gerufen und gilt als Single-Sign-on-Lösung. Die Mechanismen und Einsatzgebiete der IDs sind vielfältig, weiß Hegge. “Es gibt die sogenannten Advertising Identifier, die tatsächlich versuchen, das existierende Third-Party-Cookie-Ökosystem einfach durch andere, hoffentlich immerhin rechtlich bessere Lösungen zu ersetzen”, erklärt der NetID-Chef. “Dann gibt es Systeme wie eine Google ID oder eben auch die NetID, bei denen sich Nutzer:innen bewusst registrieren. Die verschiedenen Ansätze haben unterschiedliche Vor- und Nachteile, aber schon allein die Notwendigkeit der Registrierung und des Logins verhindert eine ähnliche Abdeckung wie bei unabhängig davon gesetzten Cookies.” Zu den genannten Ansätzen gesellen sich wiederum weitere Methoden, wie beispielsweise die probabilistischen ID-Lösungen, die Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Nutzereigenschaften ermitteln und sammeln (eine Übersicht findet sich hier).
Norman Wagner, Managing Director Germany von Utiq, glaubt ebenfalls nicht daran, dass ID-Lösungen einen Cookie-Ersatz darstellen können und sollen. Utiq ist als ein Joint Venture der Deutschen Telekom, Vodafone, Telefónica und Orange an den Start gegangen und setzt auf die Hilfe der Telko-Riesen, um IDs zu generieren. Momentan funktioniert dies ausschließlich mobil, perspektivisch jedoch auch über das Festnetz. “ID-Lösungen bieten auf der einen Seite deutlich mehr Kontrolle für den Nutzer. Zum anderen sind sie stabiler und funktionieren auch in Umfeldern wie Safari, Firefox oder In-App-Browsern. Das war bisher überhaupt nicht möglich”, sagt Wagner.
Reichweite und Frequenz als Hauptvorteil
Der größte Vorteil von IDs ist laut Wagner nicht die Anreicherung mit persönlichen Daten. “Der größte Vorteil ist die saubere Aussteuerung von Kampagnen in Bezug auf Reichweite und Frequenz”, sagt der Utiq-CEO. Ohne eine übergreifende First-Party-Identifier-Technologie agiere jedes Medium in der digitalen Landschaft isoliert von den anderen, was Werbetreibenden weniger Effizienz beschert. “Dieser Effizienznachteil ist einer der Hauptgründe dafür, dass große Marken-Budgets zunehmend bei wenigen, datenreichen Plattformen kumulieren”, so der Mediaexperte. “Diese Plattformen können dank ihrer Login-basierten Systeme und umfassenden Datenintegration über Nutzerprofile weit effizienter agieren. Sie bieten den Werbekunden die Möglichkeit, ihre Zielgruppe mit deutlich weniger Streuverlust und somit höherer Präzision zu erreichen.“ Es brauche ID-Lösungen, um diesen signifikanten Wettbewerbsnachteil in der Reichweitensteuerung der Medienlandschaft auszugleichen und so die werbefinanzierte, freie Medienlandschaft zu sichern.
IDs Marke Eigenbau
Während Utiq und NetID bereits einen unterschiedlichen Ansatz zur ID-Generierung verfolgen, stützt sich First-ID wiederum auf eine eigene Methode. Das französische Adtech-Unternehmen wurde aus dem Publisher und der Vivendi-Tochter Prisma Media heraus gegründet, die bereits verschiedene IDs im Einsatz hatte, aber nicht zufrieden war. “Als Publisher war die Anzahl der registrierten User limitiert. Probabilistische IDs können für Open Auctions nützlich sein, aber nicht für Direct Sales und Programmatic Deals”, sagt Gaël Demessant, DPO, CDO und Co-Founder bei First-ID. “Der Verlust der Third-Party-Cookies wirkt sich nicht nur auf Aktivierung und Monetarisierung, sondern auch auf User Experience und First-Party-Daten aus. Außerdem ist das Ende der Third-Party-Cookies eine Gelegenheit für Publisher, um Souveränität wiederzuerlangen und ihre eigenen Daten ins Rampenlicht zu rücken. Sie wollen Kontrolle, keine neuen Intermediäre.”
Daher unterstützt First-ID Publisher dabei, ihre eigene Identifier-Lösung zu entwickeln. Diese basiert auf einem First-Party-Cookie, soll aber domain- und geräteübergreifend funktionieren. “Wir sehen uns als Vermittler”, so Demessant. “Wir sind eine offene ID. Das bedeutet, dass die ID auf allen Websites für denselben Surfer dieselbe ist, ohne doppelte Verschlüsselung.” Die Lösung der Franzosen soll andere, zum Beispiel E-Mail-basierte Lösungen ergänzen.
Alle IDs auf einmal
Eine Alternative zu der Integration aller am Markt existierenden ID-Lösungen will Roq.ad mit einem “Meta Layer” bereitstellen. “Wir bieten keine eigene ID-Lösung an. Stattdessen sehen wir uns als Distributionskanal für mehrere andere IDs in Nordamerika und Europa. Wir haben sogar eine ID für IDs erfunden – nur für interne Zwecke –, die es Kunden ermöglicht, auf ein Portfolio von IDs für einen einzigen Nutzer zuzugreifen”, erklärt Carsten Frien, Co-Founder und CEO von Roq.ad. Das Adtech-Unternehmen wurde 2015 in Berlin gegründet und setzt heute seinen Schwerpunkt auf den US-amerikanischen Markt.
Frien ist “extrem optimistisch” mit Blick auf ID-Lösungen. “Third-Party-Cookies sind eine veraltete Technologie aus den Neunzigern, die seit Jahren Retargeting ermöglicht und Marketing-Insights liefert. Drittanbieter-Cookies sind auch leicht zu missbrauchen. Deshalb werden sie schrittweise abgeschafft.” Die zugrundeliegenden Funktionen der Third-Party-Cookies seien für Unternehmen jedoch wichtig und stärken das offene Internet. “Wir versuchen, ein System zu schaffen, das Retargeting ermöglicht und Unternehmen dabei hilft, relevante Werbung zu schalten – und keinen Müll”, sagt Frien. IDs, insbesondere im Portfolio, böten rechtskonforme Lösungen, um die Funktionen der Third-Party-Cookies für Unternehmen am Leben zu erhalten, “während die Tür zum Missbrauch geschlossen bleibt.”
Sind IDs womöglich gar nicht zukunftsfähig?
Bei allen Vorteilen, die ID-Lösungen bieten, schwebt ein Damoklesschwert über den Anbietern. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Big Tech oder auch die Politik IDs komplett den Garaus macht. Jan Heumüller, Managing Director Central Europe von Ogury, hält alternative ID-Lösungen langfristig für “nicht tragfähig”. Die Lösungen seien nicht interoperabel und ihr isolierter Ansatz erschwere es Vermarktern, die gewünschte Reichweite zu erzielen. “Es ist nahezu unmöglich, sich auf einen einheitlichen ID-Standard zu einigen, da jeder Anbieter bereits zu viel investiert hat, um sein Streben nach Marktdominanz aufzugeben. Selbst wenn dies gelingen würde, wäre es keine Lösung für globale Kampagnen in großem Maßstab. Es ist schwer vorstellbar, dass globale Marken sich bereit erklären, mehrere Vereinbarungen mit diesem Flickenteppich von lokalen ID-Lösungen einzugehen”, sagt Heumüller.
Selbst in einer Welt, in der das Interoperabilitätsproblem gelöst wäre, hätten ID-Lösungen Schwierigkeiten, sich durchzusetzen, da Nutzer:innen Online-Tracking zunehmend ablehnen, meint der Zentraleuropachef des britischen Adtech-Unternehmens. “Neben der fehlenden Akzeptanz seitens der Verbraucher erhalten Unified-ID-Lösungen auch wenig Unterstützung von Publishern, da diese kein Interesse daran haben, Nutzerdaten zu teilen. Zudem verschlüsselt Apples Safari-Browser durch die ‘Private Relay’-Einstellung die IP-Adressen der Nutzer, wodurch es unmöglich wird, diese mit eindeutigen IDs abzugleichen”, urteilt Heumüller.
Wer macht das Rennen?
Uli Hegge sieht das sicherlich anders, macht jedoch deutlich, wie wichtig Transparenz im Falle der ID-Lösungen ist: “Alle Ansätze, bei denen Konsument:innen nicht wirklich klar ist, was gerade mit ihren persönlichen Daten geschieht, werden weiter zunehmend unter regulatorischen, politischen und öffentlichen Druck kommen. Die Frage, welcher Consent wie wirksam ist, wird weiterhin im Fokus der Diskussion stehen – mit dem expliziten Ziel der Politik und Regulatorik, ein dem früheren Third-Party-Cookie-System ähnelndes System für digitale Werbung zu verhindern.” In den kommenden ein, zwei Jahren werden wir Hegge zufolge sehen, wie sich eine neue Balance zwischen den Interessen der verschiedenen Beteiligten findet. “Zwischen akzeptierten und funktionierenden Modellen zum Schutz der persönlichen Daten und der Notwendigkeit, ausreichende Erlöse mit effizienten und effektiven Werbeerlösen zu erzielen. Ein einfaches Ersetzen der früheren Datenwelt durch IDs wird nicht funktionieren”, ist auch der NetID-Chef überzeugt.
Dass sich das Werbeökosystem auf eine einzige ID einigt, ist unwahrscheinlich, aber womöglich gar nicht gewollt. “Dies war bei den Third-Party-Cookies der Fall und wie man sehen kann, alles andere als perfekt: Datenschutzprobleme, Kontrollverlust und Machtübergabe an die großen GAMAM-Plattformen”, so Gaël Demessant von First-ID. Wir sollten uns also auf eine gesunde Mischung an ID-Lösungen mit verschiedenen Ansätzen einstellen.
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