Retailer etablieren sich zunehmend im Digital-Vermarktungsgeschäft. Die Gattung Retail Media wächst und blickt Prognosen zufolge einer rosigen Zukunft entgegen. Doch woher stammen die Gelder, die in die neuen Umfelder investiert werden? Werden neue Budgettöpfe geschaffen oder andere Kanäle geschröpft? ADZINE hat sich im Markt umgehört und die Beteiligten um Einschätzungen gebeten.
Laut Analysen der Omnicom Media Group Germany dürften die digitalen Werbespendings in Deutschland im vergangenen Jahr gewachsen sein, auf rund 15,6 Milliarden Euro. Für ihren „German Digital Advertising Latecast“ greifen die Agenturexperten alljährlich auf Erhebungen des IAB Europe, Expertengespräche, Marktzahlen des OVK und BVDW sowie eigene Prognosen zurück. Neben Bewegtbild sorgt insbesondere Retail Media für Dynamik: Die Umsätze für 2023 werden dafür mit 2,2 Milliarden Euro beziffert. Und den Umfragen des FOMA-Trendmonitors zufolge dürfte die Erfolgsstory weitergehen: 71 Prozent der Befragten gaben an, dass sie Retail Media für die nächsten fünf Jahre als „sehr bedeutend“ einschätzen.
„Die Mediengattung Retail Media steht gerade erst am Anfang. Sie kommt in einer Zeit, in der die Relevanz für Omnichannel-Strategien stetig wächst“, sagt BVDW-Vize-Präsidentin Corinna Hohenleitner, die im BVDW-Präsidium für das Thema Retail Media verantwortlich ist. Doch woher kommen die Werbegelder? Wird Budget an anderen Stellen abgezogen? „Es handelt sich nicht um eine Entscheidung für oder gegen einen Kanal oder eine Werbeform. Retail Media gibt Werbetreibenden eine weitere Möglichkeit, Personen unter anderem am Point of Sale zu erreichen und ergänzt somit den Maßnahmenkatalog für eine noch bessere Ansprache und mehr Flexibilität“, sagt Hohenleitner.
Gleiche Kanäle, andere Plattformen
Moritz Hoffmann, Geschäftsführer Retail Media bei Pilot, stößt ins gleiche Horn – und geht sogar noch einen Schritt weiter. Aus seiner Sicht handelt es sich bei Retail Media nicht um eine eigene Mediagattung. So sei es in der Praxis äußerst schwierig, eine Kampagne konkret Retail Media zuzuordnen. Wird beispielsweise eine CTV-Kampagne mit Daten eines Retailers angereichert, programmatisch über eine Demand-Side-Plattformen (DSP) ausgespielt und auf dem Big Screen dargestellt, steht die Frage im Raum, ob dies tatsächlich eine Retail-Media-Kampagne ist. Oder doch eher eine CTV-Kampagne oder ganz simples Programmatic Advertising? „Retail Media ist eher die Einbettung eines Elements in einen großen Plan“, sagt Hoffmann. Früher wurden Search-Kampagnen beispielsweise ausschließlich für Google geschaltet, heute finden sie verstärkt auch auf Amazon statt. Die Online-Shopping-Reise beginnt heute oftmals direkt auf Amazon. „Es sind die gleichen Teams und teils die gleichen Budgets, die für diese Kampagnen eingesetzt werden. Nur die Plattformen wechseln“, sagt Hoffmann.
Aber wie so oft im Leben ist alles eine Frage der Perspektive: Auch wenn keine neuen Werbebudgets geschaffen werden und die Kanäle gleich bleiben, profitieren jetzt andere Player: die Retailer. Den Erfahrungen von Hoffmann zufolge handelt es sich in der Regel um Performance-Kampagnen – und entsprechend Performance-Budgets – die nun immer öfter nicht mehr auf beliebigen Websites landen, sondern gezielt auf großen Retailer-Angeboten.
Shift aus Search- und Performance-Budgets
Bei Otto Advertising beobachtet man, dass Retail-Media-Produkte mittlerweile sogar den gesamten Marketing-Funnel abdecken, und sich die Retail-Media-Budgets im deutschen Markt entsprechend aus ganz verschiedenen Quellen speisen – je nach Ziel. „Bei Sponsored Product Ads sehen wir insbesondere einen Shift aus Search- und anderen Performance-Budgets“, erläutert Sabine Jünger, Vice President von Otto Advertising. Grund dafür sei die Nähe der Sponsored Product Ads (SPA) zum Warenkorb: Werbekunden sehen, dass SPA direkt konvertieren. Sponsored Display Ads (SDA) werden Jünger zufolge in Ergänzung mit kontextueller Aussteuerung häufig als Alternative zu klassischen Retargeting-Kampagnen genutzt. „Insgesamt sehen wir allerdings nicht nur Budgetverschiebungen aus klassischen Marketingkanälen: Die höhere Effizienz von Retail Media bewirkt einen zusätzlichen Invest. Wir gewinnen also neue Budgets hinzu“, sagt Jünger. Dies passiere, wenn Media-Spends in den Mid- und Upper-Funnel erweitert werden und dann der gesammelte Funnel bespielt wird. Ein Beispiel von Otto Advertising: Der Kindermöbelhersteller Stokke, der etwa den Kinderstuhl Tripp Trapp vertreibt, hat im vergangenen Jahr seine SPA-Kampagne um SDA ergänzt.
Klassische Medien verlieren, kaum neues Budget
Experte Hoffmann hat die Erfahrung gemacht, dass mitunter neue Retail-Media-Engagements auch aus Innovation-Budgets beziehungsweise Test-and-Learn-Budgets der Advertiser gespeist werden. Während der Markt für Consumer Electronics in Bezug auf Retail Media schon weit entwickelt ist, stehen beispielsweise Lebensmittel und FMCG noch ganz am Anfang ihrer Retail-Media-Reise.
Eine weitere Quelle kann die Umverteilung von Werbekostenzuschüssen sein. Diese WKZ haben ihre Historie im stationären Geschäft. Um in den Läden publikumswirksam präsent zu sein – sei es auf der Fläche oder in Prospekten –, beteiligen sich Hersteller finanziell an den Werbe- und Verkaufsförderungsmaßnahmen ihrer Produkte. Die WKZ sind typischerweise Vertriebsbudgets, Retail Media fällt hingegen in den Zuständigkeitsbereich des Marketings. Beide landen beim Retailer. Während einige Händler strikt nach Retail Media und Werbekostenzuschüssen durch die Hersteller trennen, werden in anderen Organisationen die Gelder vermischt, sodass es bei solchen Händlern im Zuge zunehmender Digitalisierung auch zu Umverteilungen in Richtung Retail Media kommen kann.
Wie auf Advertiser-Seite die Budgets zwischen Paid Media und WKZ verteilt werden, hängt in der Regel von den unterschiedlichen Zielen des Unternehmens ab. „Je digitaler die Vertriebskanäle sind oder werden, desto stärker werden vertriebsorientierte Budgets und Paid Media verschmelzen“, prognostiziert Christian Wilkens, Chief Client Officer bei Essence Mediacom. „Jeder Touchpoint, egal über welchen Kanal, muss und wird vergleichbar werden“, sagt Wilkens. Und damit gehe es auch um die Frage, wo das Geld am besten für die Kund:innen arbeitet. Laut einer OWM-Studie aus dem vergangenen Jahr gehen die wachsenden Anteile von Retail Media vor allem zulasten klassischer Medien. Insbesondere Print und TV verlieren, nur zehn Prozent der Befragten sehen zusätzliche Budgets.
Retail-Media-Wachstum birgt Gefahren
Nicht zuletzt könnte das Aus der Drittanbieter-Cookies die Retail-Media-Umsätze weiter befeuern. Wenn alte Targetings nicht mehr funktionieren, sind die Seiten der Retailer und ihre First-Party-Daten eine probate Werbe-Alternative. Doch es gibt auch warnende Stimmen: „Es wäre fatal, wenn Werbetreibende bei ihrer neuen Strategie die Risiken von Retail Media außer Acht lassen“, sagt Otto Schmidt, Vice President Sales bei Welect. Aus seiner Sicht sollten Werbetreibende, die Retail Media vordergründig als Cookieless-Alternative nutzen, auch alternative Möglichkeiten testen und ausschöpfen. „Sonst setzen sie am Ende nur auf ein einziges Pferd mit begrenzten Kapazitäten.“ Einen Großteil seiner Werbebudgets hinter die Walled Gardens zu verschieben, werfe außerdem die Frage auf, wo diese Gelder hinfließen und was sie finanzieren. „Werbefinanzierung wird auch in Zukunft eine wichtige Rolle für Journalismus und damit einhergehend die Pressefreiheit spielen – wichtige Eckpfeiler unserer Demokratie, die durch das Wachstum von Retail Media nicht an Bedeutung verlieren sollten.“
Nach Einschätzung von Schmidt ist auch Intransparenz derzeit noch ein großes Risiko im Bereich Retail Media. „Das betrifft sowohl intransparente Pricings als auch Messmethoden und fehlende technische Standards“, sagt Schmidt. Nichtsdestotrotz belegen unterschiedliche Quellen, dass Retail Media auch in den kommenden Jahren weiter wachsen wird. „Die Entwicklungen in den USA zeigen aber auch, dass nicht aus jedem Händler online ein Retail-Media-Erfolg wie Amazon wird. Mittelfristig werden sich stattdessen einige wenige Plattformen etablieren. Um den Erfolg von Retail Media langfristig zu realisieren, müssen die Anbieter also an den genannten Risiken arbeiten“, so Schmidt.
Standards in Arbeit
An den Standards und der Vergleichbarkeit wird hierzulande bereits intensiv geschraubt. Das Lab „Markttransparenz und Standards“ im Retail Media Circle des BVDW hat im Januar weitere Standard-Metriken für den Retail-Media-Bereich festgelegt. Durch klare Definitionen sollen Transparenz und Effizienz verbessert werden. Die erarbeiteten Metriken entsprechen den gängigen KPIs im Marketing Funnel, sind aber konkret auf das Thema Retail Media zugeschnitten. Die einheitliche Definition soll eine bessere Vergleichbarkeit von Retail-Media-Reports und damit auch eine bessere Budgetallokation für Advertiser ermöglichen. „Wir rechnen gemäß den Prognosen des FOMA-Trendmonitors damit, dass der Markt und damit auch die Budgets im Bereich Retail Media auch in 2024 gegenüber den Vorjahren weiterwachsen werden“, sagt BVDW-Vizepräsidentin Hohenleitner. Dynamik steckt vor allem in dem Thema Daten: Dem FOMA-Report zufolge schätzen viele Befragte (24 Prozent), dass gegenüber 2023 in diesem Jahr am stärksten in Retail-Daten investiert wird, um Display und Video-Werbung auf Drittseiten auszusteuern. Aber auch Onsite Display & Video sowie Onsite SPA dürften in diesem Jahr signifikant wachsen, so die Erwartung der Studienteilnehmer:innen. Die vielfältigen Quellen, aus denen sich Retail Media speist, könnten aus dem ersten Hype eine langfristige Erfolgsgeschichte werden lassen.
Tech Finder Unternehmen im Artikel
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