Auch wenn niemand in eine Glaskugel schauen kann und die langfristigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie noch nicht überschaubar sind, gibt es Hoffnungsschimmer. ADZINE hat für eine aktuelle Artikelserie Entscheiderinnen und Entscheider der digitalen Wirtschaft sowie Unternehmer und Freiberuflerinnen angrenzender Branchen nach ihrer derzeitigen Markteinschätzung gefragt.
Darin sind sich bislang alle von ADZINE befragten Expertinnen und Experten aus den Bereichen Marketing und Vertrieb einig: Gerade während Corona ist es wichtig, die Kommunikation zu Neu- und Bestandskunden aufrechtzuerhalten, ganz egal, ob B2B oder B2C. Der große Vorteil von digitaler Werbung liegt schließlich auf der Hand – die Messbarkeit, die ein Hauptgrund dafür ist, warum Werbetreibende immer mehr Budgets in digitale und andere messbare Medien verlagern.
Neuer Spielplan im Advertising
„Unklar ist allerdings, wie sich eine Krise wie die aktuelle auf den Anteil der Markenwerbung im Vergleich zur Performance-Werbung auswirkt“, sagt Ekkehardt Schlottbohm, Regional Director Central Europe bei Pubmatic, mit Blick auf Covid-19. Diese Unklarheit eröffne wiederum neue Möglichkeiten, unter anderem hätten Marketer jetzt mehr Zeit für die Suche nach kreativen Lösungen und „denken über Tellerrand hinaus“ oder nutzen die Zeit für eine „engere Zusammenarbeit“ und „mehr Transparenz“.
Die aktuellen Ereignisse bringen bedeutende Veränderungen in den Mediennutzungsverhalten der Verbraucher mit sich. Mehr Menschen verbringen ihre Zeit zu Hause, doch was tun sie da? Werden sie lineares Fernsehen mit normaler Werbung sehen, werbeunterstütztes Over-the-Top-Video (OTT) oder werbefreies Netflix? Wie sieht es aus mit Esport-Inhalten, während die Profi-Sportligen außer Betrieb sind? Und Twitter …? Alles Fragen, die sich Pubmatic, welches erheblich in Video, CTV und OTT investiert, stellt.
Darüber hinaus nutzt das Unternehmen die Zeit, um die zukünftigen Strategien und Geschäftsmodelle zu überdenken, neue Fragen zu stellen „und den Geist zu öffnen. Es ist an der Zeit, einen Blick auf die Supply-Side-Plattformen zu werfen, mit denen man zusammenarbeitet“, sagt Ekkehardt Schlottbohm, und das gelte nicht nur für Buyer, sondern ebenso für Publisher. Hier helfe ein Gesundheitscheck des programmatischen Setups, um das Risiko für die Monetarisierung zu mindern.
„In schwierigen Zeiten ist es wichtig, den Markt mit relevanten Botschaften zu erreichen. Das ist nicht nur gut für die Marke, sondern auch für zukünftige Conversions. Krisen zu nutzen, sich zu engagieren und über Dinge zu kommunizieren, die die Menschen gerade jetzt betreffen, zeigt Stärke und schafft eine Bindung zu den Verbrauchern, die viel länger andauert als die Krise selbst“, ist sich Marketingfachmann Schlottbohm sicher.
“Der gesamte Spielplan wird gerade jetzt neu entworfen. Die richtige Botschaft an die richtige Person oder eine sinnvolle Zielgruppenansprache zu liefern, wird zu einer wichtigen Aufgabe“, so Schlottbohm. Dazu zählt ebenso, die eigene Bürokultur trotz Remote-Arbeitsplatz intakt zu halten und last but not least in Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu investieren: „Pubmatic stellt weltweit immer noch Mitarbeiter für eine Reihe von Aufgaben ein.”
In der Krise als Vorbilder vorangehen
Das Management von Smartclip hat als eines der ersten Unternehmen in Deutschland auf den Ausbruch von Corona reagiert: „Bereits Anfang März, als die ersten 14 Corona-Fälle in Deutschland auftraten, haben wir unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von der Straße geholt. Es wurde nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren, Meetings wurden abgesagt, das mobile Arbeiten für alle eingeführt“, sagt Thomas Servatius, Co-CEO Smartclip Europe und Managing Director für Smartclip Deutschland.
Ob die Tatsache, dass Servatius in den letzten Zügen seines berufsbegleitenden Zweitstudiums in Data Science liegt und mit Blick auf die ersten Corona-Zahlen bei ihm die inneren Daten-Alarmglocken schrillten, spielt jetzt keine Rolle mehr. Fakt ist: Die Smartclipper waren schnell. Und haben mit ihrer Entscheidung ein wichtiges Signal gesetzt, das weit hinaus funkt: Verantwortlichkeit und Lernfähigkeit.
„Unsere Arbeitsweise bei Smartclip, mit ihrer zeitlichen und örtlichen Flexibilität sowie der flexiblen Einbindung von Eltern, hat sich als extrem robust und in der Krise als Wettbewerbsvorteil bewiesen. Eine weitere Frage, die an Bedeutung gewonnen hat, ist, ob wir wirklich so viel reisen müssen“, antwortet Thomas Servatius auf die Frage, was wir aus der aktuellen Lage für die Digitalwirtschaft lernen können.
Servatius, der wie viele Online-Marketing-Experten einen Teil seiner Arbeit auf Bahnhöfen und Flughäfen verbracht hat, hat auch für sich persönlich festgestellt, dass er endlich während seiner regulären Arbeitszeit zu dem kommt, wofür er eigentlich bezahlt wird: „Ich komme zum Nachdenken. Habe viel Zeit für Planung und Strukturierungsfragen.“ Entscheidend sei ihm zudem als Vorbild zu fungieren: „Das ist wichtig, denn es hat auch eine Wirkung auf die eigenen Mitarbeiter: Wir kämpfen, wir geben nicht auf, wir tragen die Verantwortung. Das können wir nicht allein von unseren Kunden verlangen, wir selber müssen als Vorbilder vorangehen.“
Auch wenn Servatius befürchtet, dass gestrichene und umgeplante Werbebudgets „Spuren in unserer Branche hinterlassen“ werden, hofft der Top-Manager, „dass es zu keinen strukturellen Schäden kommt und wir jeden Mitarbeiter in die Zukunft mitnehmen können“. Für die Zeit nach Corona hofft der 51-Jährige, dass „wir Millionen fähige Mitarbeiter endlich von überbordenden Arbeits- und Kontrollstrukturen befreien, die das Leben durch Pendelzeiten, Regeldiskussionen und Zeitstress völlig unnötig erschweren“.
Der Mediamix wird digitaler
Bis zum vierten Quartal in 2020 samt der verbundenen Hoffnung ist es noch ein weiter Weg mit Hindernissen. „Die Marketing- und Vetriebsverantwortlichen in den Unternehmen müssen in nächster Zeit den Spagat schaffen zwischen Wirtschaften mit möglichst geringen Budgets und gleichzeitig einer möglichst hohen Zielerreichung beim Umsatz, damit der wirtschaftliche Schaden für die Unternehmen verkraftbar bleibt“, sagt Wolfgang Thomas, Gründer und Geschäftsführer der Digital-Media-Agentur Netzwerk Reklame. Auch wenn die ursprünglichen Jahrespläne Makulatur seien, würde man versuchen, noch möglichst viel wieder aufzuholen: „Damit wird bei vielen Unternehmen die kurzfristige Aktivierung eher im Mittelpunkt stehen und weniger der strategische Markenaufbau“, so Thomas.
Seiner Ansicht nach profitieren vor allem Performance-Marketing-Instrumente, die einen direkten nachweisbaren Absatzzuwachs und Neukunden bringen. Die meisten Unternehmen hätten mittlerweile gelernt, dass bei einer sachgemäßen Attribution nicht immer nur der letzte Klick aus Retargeting, Brand Search und SEO zählt, „sondern auch andere Kanäle wie Native, Programmatic, Video und Social einen wichtigen Conversion-Beitrag leisten“.
Darüber hinaus zählt Wolfgang Thomas folgende Branchen für mögliche Post-Covid-19-Gewinner: Erstens: Klassische Händler mit einem lokalen Bezug beziehungsweise lokalen Angebot, deren Kommunikation sich oftmals noch an Printbeilagen oder Radio orientiert – Kanäle, auf denen beispielsweise junge Familien immer weniger erreichbar seien. Aber mit einer intelligenten Verknüpfung von Online-Präsenz und Service vor Ort könnte der stationäre Handel zurück in die Zukunft starten. Zweitens: Markenartikler mit vergleichsweise kleinen Budgets, die bislang noch auf TV gesetzt haben. Diese Unternehmen erhalten nicht die Top-Konditionen und besten Platzierungen wie große Player und könnten mit dem gleichen Budgeteinsatz über Videoformate im Netz ihre Zielgruppen viel präziser erreichen.
Der dritte Bereich „mit exzellenten Wachstumschancen sind alle Werbetreibende in Nischenmärkten, die noch mit einem relativ klassischen Mediamix unterwegs sind und entsprechendes Entwicklungspotenzial mit intelligentem Targeting haben“, sagt der Betriebswirt. Thomas Fazit ist wenig entgegenzusetzen: „Gewohnheitsbuchungen mit hohen Streuverlusten werden sich Werbetreibende auf absehbare Zeit nicht mehr leisten können. Der Mediamix vieler Unternehmen wird nach der Krise deutlich digitaler sein. Ob die Handelslandschaft ebenfalls digitaler wird, hängt maßgeblich von der Innovationsfreude der stationären Retailer ab.“
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