Warum Marken längst Publisher sind – und Publisher denken müssen wie Marken
Ulf Heyden, 22. Dezember 2025Aus der Praxis für die Praxis (4)
Neulich schrieb mir jemand aus meinem Netzwerk, der meine ersten drei Adzine-Kolumnen sehr genau gelesen hat: „Wer ist denn eigentlich die Zielgruppe deiner Kolumne? Die Medien – oder die, die Werbung schalten?“ Die ehrliche Antwort ist: beide. Und genau das ist der Punkt, über den wir reden müssen.
Über Jahre haben wir die Rollen fein säuberlich getrennt: Hier die Verlage oder neudeutsch auch “Publisher”, die Inhalte produzieren und Reichweite bauen. Dort die Werbungtreibenden – oder auch “Advertiser”, die diese Reichweite buchen, um Aufmerksamkeit für ihre Produkte zu bekommen.
In dieser Logik ist es klar, für wen ein Text in einem Fachmagazin wie Adzine geschrieben ist: Entweder für die eine oder für die andere Seite – Publisher oder Advertiser?
Nur hat sich die Realität längst weitergedreht. Unternehmen, die früher „nur“ Werbung geschaltet haben, machen seit mehr als zehn Jahren Content Marketing, betreiben eigene Portale, Corporate Blogs, Ratgeberwelten, Newsrooms, Podcasts, Newsletter und inzwischen auch clevere Web-Push-Kanäle. Sie verhalten sich wie Publisher – und sie sind es auch. Sie konkurrieren mit klassischen Medienhäusern um dieselben Nutzer, dieselben Suchbegriffe, dieselben Platzierungen in Google Discover und – seit neuestem – um dieselben Slots in Antwortmaschinen wie Chat GPT oder Gemini.
Die Frage „Medien oder Werbungtreibende?“ greift zu kurz. Im KI-Zeitalter gibt es nur noch zwei Gruppen: diejenigen, die Inhalte erzeugen, und diejenigen, die sie vermitteln. Und wer Inhalte erzeugt, spielt im selben System – egal, ob Verlag oder Marke.
Was meine ersten drei Kolumnen in Adzine miteinander zu tun haben
In meiner ersten Kolumne „10 Fails der Publisher-Monetarisierung“ ging es um klassische Erlösfehler und die Frage, wie Verlage mehr aus ihrem Inventar herausholen. In der zweiten „KI-Apokalypse: Gibt es in zwei Jahren noch Webseiten?“ habe ich beschrieben, warum die Website vom Einstiegspunkt zur Fläche für Vertiefung, Evidenz und Vertrauen wird, während KI alles Glättbare glättet. Die dritte Kolumne „Autarkie statt Algorithmus“ hat diesen Gedanken auf die Distribution übertragen und gezeigt, wie Web-Push, Newsletter und Messenger eine eigene Grundreichweite aufbauen, statt nur auf Google, Social und Assistenten zu hoffen.
Was dort vor allem für Publisher formuliert war, gilt heute genauso für Marken-Websites, Corporate-Portale, Retail-Media-Hubs und jedes Unternehmen, das Content produziert.
Marken als Publisher – und die stille Konkurrenz um dieselben Fragen
Bleiben wir bei dem Beispiel, das sich durch meine bisherigen Kolumnen zieht: E-Bikes. Ein spezialisierter E-Bike-Publisher betreibt ein Portal mit Tests, Kaufberatungen, Reichweitenrechnern, Strecken-Tipps und vielleicht einem Magazinbereich mit Interviews und Szenestimmen.
Parallel dazu baut ein großer Hersteller einen eigenen Ratgeberbereich auf, ergänzt um Modellfinder, Akku-Checker und Probefahrt-Formulare. Vergleichsportale ziehen mit Preis- und Ausstattungsvergleichen nach, Händlerketten starten ihre eigenen Content-Hubs.
Am Ende stellen Nutzer aber immer wieder dieselben Fragen:
- „Welches E-Bike passt zu meinem Usecase / in diesem Falle meinem Pendelweg?“
- „Reicht der Akku wirklich für XX Kilometer?“
- „Worin unterscheiden sich Motor X und Motor Y im Alltag?“
Ob die Antwort dann von einem unabhängigen E-Bike-Portal, einem Hersteller oder einem Händler kommt, ist den meisten Nutzern erstaunlich egal – solange sie verständlich, nachvollziehbar und ehrlich ist.
In der KI-Suche erst recht: Das Modell unterscheidet nicht nach Geschäftsmodell, sondern nach Signalen. Erfahrung, Expertise, Autorität, Trust – das berühmte E-E-A-T. Wer diese Signale liefert, kommt vor. Wer sie nicht liefert, wird zum Rohstoff im Hintergrund. Damit sitzen E-Bike-Publisher und E-Bike-Marken im selben Boot.
Beide müssen sich fragen:
- Wie baue ich eigene Reichweite auf, statt mich nur auf SEO zu verlassen?
- Wie mache ich meinen Content so, dass er sowohl Menschen überzeugt als auch von Maschinen verstanden wird?
Und wie sieht ein Geschäftsmodell aus, das diese Inhalte rechtfertigt – intern gegenüber dem Controlling und extern gegenüber dem Markt? Die Antworten unterscheiden sich weniger, als viele glauben.
Autarkie: Owned Channels sind keine Verlags-Spezialität
In der letzten Kolumne habe ich Web-Push als unterschätzten Hebel für Distributions-Autarkie beschrieben. Das Bild war klar auf Publisher zugeschnitten: Viele große Newssites verzichten aus Selbstbewusstsein oder Bequemlichkeit auf Owned-Media-Kanäle wie Newsletter oder auch Web-Push („die Nutzer kommen schon wieder“), während mittelgroße Häuser den Kanal zwar nutzen, aber oft falsch konfigurieren – mit schlechten Opt-ins, zu vielen Sub-Channels und wenig Strategie.
Der Punkt lässt sich eins zu eins auf Marken übertragen. Wenn ein Hersteller einen aufwendigen Ratgeberbereich aufsetzt, vielleicht ein Tool-Set mit Konfiguratoren und Rechnern, aber bei jedem neuen Artikel still und leise nur auf SEO „hofft“, ist das dieselbe Logik: Reichweite dem Zufall überlassen. Ebenso, wenn ein Unternehmen zwar Newsletter verschickt, aber auf Web-Push verzichtet, weil man Angst hat, „zu aufdringlich“ zu wirken.
Für beide gilt:
- Die erste Sekunde entscheidet, ob ein Opt-in überhaupt möglich wird – ob im Verlag oder auf der Brand-Site. Relevanz entscheidet, ob der Nutzer bleibt oder über den Chrome „Safety Check“ wieder entfolgt.
- Segmentierung entscheidet, ob ein Push wie Spam wirkt oder wie ein Service. Ob am Ende eine Breaking News, ein Produkt-Update, ein Förder-Tipp oder ein neuer Ratgeber gepusht wird, ist für die Mechanik zweitrangig.
Wichtig ist, dass die Nachricht ein Problem löst – journalistisch oder praktisch – und nicht nur die Publisher- oder Marketing-Planung abarbeitet.
Authentizität: Was guter Journalismus Marken lehren kann
Umgekehrt können Marken von klassischen Publishern lernen, was Authentizität konkret bedeutet. Nicht als weichgespülter Markenwert, sondern als handwerkliche Disziplin.
Wenn eine Redaktion zu einem politischen Thema arbeitet, gilt:
- Es gibt sichtbare Autorenschaft – Zitate sind belegt.
- Quellen werden verlinkt.
- Methoden werden erklärt, nicht nur behauptet.
Der Preis dafür ist Aufwand – aber der Ertrag ist Vertrauen
Genau diese Mechanik brauchen auch Unternehmen, die Content Marketing betreiben. Ein „neutral wirkender“ Ratgeber, der in Wahrheit nur weichgespülte Verkaufsargumente enthält, wird von Nutzern durchschaut und von KI-Modellen als beliebiger Werbetext eingeordnet. Ein Stück, das offenlegt, welche Interessen das Unternehmen hat, und trotzdem sauber erklärt, vergleicht, rechnet und belegt, wird als ernst zu nehmende Quelle wahrgenommen – gerade im B2B.
Damit sind wir bei der Frage: „Wer soll das bezahlen?“ Die nüchterne Antwort: Nicht jeder Artikel, nicht jede Landingpage muss diesen Anspruch erfüllen. Aber es braucht bewusste Leuchttürme – Themen, in denen ein Unternehmen oder ein Verlag sichtbar besser ist als der Rest.
Wenn dort Messbarkeit, Transparenz und Autorenschaft stimmen, sind es genau diese Inhalte, die:
- längere Sitzungen erzeugen,
- häufiger direkt wieder aufgerufen werden,
- eher in Newsletter und Web-Push landen
- und perspektivisch als Quelle für Pay-per-Crawl- oder Lizenzmodelle taugen.
Weniger Masse, mehr Evidenz – das ist für Publisher unbequem, für Unternehmen aber genauso.
Produktdenke: Wenn Redaktionen und Marketing denselben Werkzeugkasten teilen
Redaktionen müssen künftig wie Produktabteilungen denken. Das gilt genauso für Corporate-Teams und Marketingabteilungen: Eine Themenstrecke ist kein „Projekt“, das einmal gelauncht und dann liegen gelassen wird, sondern ein Produkt mit Lifecycle.
Im Klartext:
- Für Publisher heißt das: Ein Schwerpunktbereich (z. B. Energie, Gesundheit, Finanzen) braucht eine klare Produktverantwortung, definierte Kennzahlen, regelmäßige Iteration. Wer kommt? Was suchen diese Nutzer? Welche Tools brauchen sie, um ihr Problem schneller zu lösen als jede KI-Antwort?
- Für Unternehmen heißt das: Ein Ratgeberhub oder ein Magazin ist nicht „dekoratives Beiwerk“ neben Kampagnen, sondern Teil des Kernprodukts. Vertrieb, Service, Marketing und Produktentwicklung sollten ihn gemeinsam denken, nicht als isolierten Kommunikationskanal.
Der Werkzeugkasten ist identisch: interne Suche als Discovery-Engine, klare Dossiers, strukturierte Daten, saubere Feeds, Web-Push als Rückholer, Newsletter und CRM als Beziehungskanal. Unterschiedlich sind nur die Ziele: Beim Verlag oder Publisher stehen Abo, Native-Werbung, Content-Commerce im Vordergrund; beim Unternehmen Leads, Bestellungen, Customer Lifetime Value.
Für die Nutzer ist das egal. Sie wollen ihre Frage beantwortet bekommen – und entscheiden danach, mit wem sie eine Beziehung eingehen. KI-Trafficverlust trifft Marken und Medien gleichermaßen.
Die „KI-Apokalypse“ ist kein exklusives Medienproblem
Wenn ein Assistent in Zukunft nicht mehr zehn Links, sondern eine Antwort ausspielt, werden auch Marken weniger direkte Zugriffe sehen. Die typischen Fragen, auf die heute Corporate-Ratgeber oder B2B-Whitepaper optimiert sind, wandern zunehmend zuerst in Chat-Oberflächen.
Wer hier bestehen will, braucht Autarkie über eigene Kanäle wie Newsletter, Web-Push, Community-Formate oder Login-Welten, Authentizität über Evidenz, klare Autorenschaft und transparente Kriterien sowie Maschinenlesbarkeit über strukturierte Daten, eindeutige Entitäten und saubere Feeds. Es ist absehbar, dass Unternehmen genauso wie Verlage darüber nachdenken müssen, wie Inhalte künftig lizenziert, gemessen und vergütet werden – sei es über Pay-per-Crawl, direkte Verträge mit KI-Anbietern oder Modelle, die wir heute noch nicht kennen. Wer bis dahin nur „Content als Füllstoff“ produziert hat, wird wenig Verhandlungsmasse haben; wer nachweisen kann, dass seine Inhalte originär, belastbar und genutzt sind, hat Optionen.
Warum diese Kolumne beide Seiten meint
Damit sind wir wieder bei der Ausgangsfrage: „Sind deine Kolumnen für Medien oder für Werbungtreibende?“ Die ehrliche Antwort lautet: Sie sind für alle, die im offenen Web Verantwortung tragen – für Inhalte, für Nutzer und für ein Geschäftsmodell. Das schließt Verlage, Vermarkter, Agenturen und Werbungtreibende gleichermaßen ein.
Die Tools mögen unterschiedlich heißen, die KPIs subtil andere Gewichtungen haben, aber die Grundfragen sind identisch:
- Wie gewinne ich Nutzer, wenn Suchmaschinen und KI-Assistenten den direkten Weg abschneiden?
- Wie halte ich diese Nutzer, ohne mich komplett von Plattformen abhängig zu machen?
- Und wie verdiene ich damit Geld – nicht einmalig, sondern dauerhaft? In den nächsten Kolumnen möchte ich diesen Dialog bewusst öffnen: Was können Marken von Publishern lernen – und umgekehrt?
Welche Formate funktionieren in beiden Welten? Und wie sieht eine Kooperation aus, bei der nicht nur Werbekampagnen eingekauft werden, sondern wirklich gemeinsam Reichweite, Datenkompetenz und Produktlogik aufgebaut werden?
Vielleicht ist das die eigentliche Antwort auf die Eingangsfrage: Diese Kolumne richtet sich nicht an „Medien oder Werbungtreibende“, sondern an alle, die akzeptieren, dass sie heute Publisher in eigener Sache sind – mit allen Chancen und Pflichten, die das mit sich bringt.