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ADTECH - Interview mit Johannes Paysen, Seedtag

Neuronen statt auslaufender Signale?

Karsten Zunke, 18. Dezember 2025

Interview mit Johannes Paysen, Seedtag

Bild: TSD Studio - Unsplash

In einer zunehmend fragmentierten digitalen Werbewelt stehen Werbetreibende vor der Herausforderung, Zielgruppen effektiv und datenschutzkonform zu erreichen. Während große Plattformen immer mehr in Richtung geschlossener Ökosysteme drängen, wächst der Ruf nach mehr Transparenz, Standardisierung und Unabhängigkeit. Im Interview spricht Johannes Paysen, Managing Director DACH von Seedtag, über die Rolle von neuro-kontextuellem Targeting im Open Web, die Chancen von KI-gestützten Ansätzen und warum ein offenes Ökosystem für die Zukunft der digitalen Werbung unerlässlich ist.

Bild: Seedtag Johannes Paysen, Seedtag

ADZINE: Johannes, mit den KI-Anbietern und ihren LLMs kommen neue Player in den Markt, die alles aus einer Hand anbieten – von der Produktsuche bis zum Check-out. Es scheint, als würden noch mehr Walled Gardens entstehen...wohin steuert das Internet und mit ihm die Online-Werbung?

Johannes Paysen: Ja, die Entwicklung generativer KI-Modelle kommt vielen Walled Gardens zugute. Neben neuen Playern verstärken große Anbieter wie Amazon, Google, Meta oder Microsoft durch ihre Datenhoheit und Investitionen ihre Marktposition – auch durch KI-gestützte Komplettlösungen. Die Frage nach Transparenz bleibt aber zentral. Viele Werbetreibende verlangen diese, auch wenn sie in Walled Gardens schwer zu bekommen ist.

Daher wird das Open Web aktuell auch stark gepusht. Auf dem OWM-Summit wurde beispielsweise der Wunsch formuliert, mehr in Premium-Publisher zu investieren. Gleichzeitig wird darüber nachgedacht, dass die ID-Lösungen auch in den Walled Gardens eingesetzt werden sollten, um das Open Web damit zu ganzheitlich zu adressieren, um mehr Planbarkeit zu erreichen. Also eine Art von Koexistenz, bei der beides zusammengedacht wird, um auch Skalierbarkeit und Vergleichbarkeit über alle Kanäle zu erreichen.

Aber damit reden wir wieder über – quasi veraltete – Identifier-Lösungen und das große, damit zusammenhängende Thema von Einwilligungen und der DSGVO. Doch die Realität ist längst eine andere. Viele Browserhersteller wie Firefox haben sich längst mit einem Privacy-First-Ansatz positioniert. Laut aktuellen Marktanteilen der Browser gehen rund 50 Prozent der Nettoreichweite im Open Web durch veraltete Ansätze verloren, unabhängig von der Gesetzeslage.

ADZINE: Warum hältst du ein offenes Werbe-Ökosystem für essenziell – und welche Risiken entstehen, wenn sich der Markt zu stark auf einen einzigen Vollanbieter stützt?

Paysen: Es gibt zwei zentrale Risiken. Erstens: Wenn alles automatisiert über KI läuft, droht ein Einheitsbrei. Viele Social-Media-Kampagnen, die man aktuell sieht, wirken oft austauschbar – alles sieht gleich aus. In den kommenden Monaten wird sich das erheblich verbessern, denn wir stehen erst am Anfang der KI-Reise. Zweitens: Im CTV-Segment sehen wir bereits, dass komplette Videos per AI generiert werden, ohne dass je eine Kamera eingesetzt wurde. Das bringt zwar Effizienz, aber auch Herausforderungen für die kreative Vielfalt.

Langfristig geht es um Grundwerte wie Meinungsfreiheit und Medienvielfalt. Walled Gardens sind primär in der Hand amerikanischer Konzerne und das birgt durchaus Risiken. Daher ist es wichtig, Publisher zu stärken, die eine unabhängige Berichterstattung ermöglichen.

ADZINE: Wo seht ihr euch in diesem Markt?

Paysen: Wir sehen uns in der Rolle eines unabhängigen Akteurs im Open Web. Wir setzen auf Transparenz. Auch wir nutzen KI für unsere Lösung. Aber wir arbeiten mit 30 verschiedenen KI-Modellen. Das heißt, wir nutzen jeweils das Modell, mit dem wir nach unserem Test die besten Ergebnisse erzielen, während die resultierenden Produkte bei uns entstehen und von uns kontinuierlich ausgebaut und verbessert werden. Wir vertreten die Ansicht, dass neuro-kontextuelle Zielgruppen weniger Streuverlust haben als klassische Alter-Geschlechter-Zielgruppen-Cluster.

ADZINE: Kannst du bitte ein Beispiel nennen?

Paysen: Nehmen wir zum Beispiel einen Whisky-Hersteller. In der tradierten Mediawelt würde man hier eine Zielgruppe zwischen 20 und 49 Jahre auswählen. Aber wer in diesem Segment trinkt harten Alkohol, also Whisky – da besteht die Gefahr des klassischen Streuverlustes. Wenn man stattdessen den Kontext nutzt, zum Beispiel ob jemand sich aktiv mit Spirituosen beschäftigt, ist die Zielgruppe deutlich präziser erreichbar. Mit kontextueller Steuerung generieren wir daher eine bessere Performance als mit klassischer Zielgruppen-Clusterung. Im Sommer dieses Jahres haben wir unser Angebot erweitert. Jetzt analysieren und verstehen wir zusätzlich zu Interessen und Intent auch Emotionen.

Momentan beobachten wir einen intensiven Wettbewerb im Auto-Markt, insbesondere rund um Leasingangebote zum Jahresende. Unsere Analysen zeigen, dass Nutzer nicht pauschal nach einem Auto suchen, sondern häufig gezielt nach bestimmten Modellen. Wenn wir erkennen, dass ein urbaner Interessent beispielsweise einen SUV sucht, können wir unsere Maßnahmen darauf ausrichten. Die bloße Zuordnung zu einer Altersgruppe liefert dabei wenig Nutzen; wichtiger ist die Kontextualisierung und das konkrete Suchverhalten.

ADZINE: Welche Bedeutung wird kontextuelles Targeting in einem KI-getriebenen Markt deiner Einschätzung nach einnehmen – und wie lässt es sich mit KI-gestützten Ansätzen intelligent kombinieren?

Paysen: Viele Menschen assoziieren Kontextualität klassischerweise mit einfachen Mechanismen wie Keywords, URL-Tags und einfachem Tagging. Unsere Perspektive ist, dass die Bedeutung weit über diese traditionellen Ansätze hinausgehen muss. Die wahre Herausforderung und der Mehrwert der KI kommen ins Spiel, wenn der Kontext problematisch wird. Angenommen, man hat einen Artikel über sehr sichere Fahrzeuge. Auf derselben Seite wird jedoch über einen tragischen Vorfall berichtet – etwa ein Attentat, bei dem eine Person in einem Auto erschossen wurde. Wenn man sich nur auf Keywords verlässt, wird dieser Inhalt weiterhin als ‚News‘ oder ‚Auto-Kontext‘ klassifiziert, obwohl das Bild ein Auto mit einem Einschussloch in der Windschutzscheibe zeigt. Dies ist ein Kontext, in dem kein Autohersteller seine Marke platzieren möchte. Hier setzt die Neuro-Kontextualität an, die durch künstliche Intelligenz ermöglicht wird.

ADZINE: ...das heißt konkret?

Paysen: Unsere KI ist beispielsweise in der Lage, diese tieferen, subtileren Signale zu erkennen. Wir sehen nicht nur das Keyword, sondern interpretieren das gesamte Bild. Die KI erkennt, dass – um beim Attentat-Beispiel zu bleiben – ein Unglück stattgefunden hat und es eben nicht um Autos geht. Das macht einen großen Unterschied. Unsere KI-Lösung erlaubt uns, Rückschlüsse auf das tatsächliche Interesse, die Emotion und die Kaufabsicht des Nutzers zu ziehen. Dadurch haben wir die Möglichkeit, Kampagnen entlang des gesamten Customer-Funnels zu aktivieren – und der verläuft nicht immer gleichmäßig. Insbesondere bei Investitionsgütern, wie einem Auto, einer Waschmaschine oder einem neuen Herd, ist der Consideration-Funnel beispielsweise signifikant breiter. Eine Neuro-Kontextualität trägt dieser Realität Rechnung, indem sie diese intensivere Recherche- und Vergleichsphase gezielter adressiert.

ADZINE: Lass uns abschließend nochmal zur Eingangsproblematik zurückzukommen, denn am Ende hängt alles zusammen: Das Open Web soll gestärkt werden. Aber ein offenes Ökosystem braucht auch offene Schnittstellen, gemeinsame Taxonomien und standardisierte Messmethoden. Welche Standards fehlen dir aktuell im Markt am dringendsten – und wer sollte sie aus deiner Sicht vorantreiben?

Paysen: Standards fehlen an vielen Stellen – besonders bei kontextuellen Lösungen. Die Herausforderung ist, dass KI sich ständig weiterentwickelt. Die Frage ist also, ob bestehende Standards überhaupt mithalten können oder ob neue Standards geschaffen werden müssen.

Ein Vorbild könnte der MRC in den USA sein. In Deutschland bräuchten wir ein vergleichbares Gremium – haben wir aber nicht. Die großen Marktteilnehmer sollten daher gemeinsam solche Standards entwickeln, insbesondere im Bereich Kontextualität stehen wir erst am Anfang.

ADZINE: Vielen Dank für das Interview, Johannes!

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