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KI statt ID? – Contextual Targeting im Bewegtbild

Anton Priebe, 27. Oktober 2025
Bild: Oleg Brovchenko – Unsplash

Die eingeschränkte Verfügbarkeit von Identifiern für die Adressierbarkeit von Werbemaßnahmen stellen auch die Bewegtbildwerbung vor eine zentrale Frage: Wie lässt sich Relevanz schaffen, wenn personenbezogene Daten fehlen? Contextual Targeting erlebt in diesem Umfeld eine Art Renaissance. Doch kann es im Videokontext wirklich halten, was es verspricht? Fünf Branchenexperten geben im Vorfeld der ADZINE CONNECT VIDEO Einblick in den Stand der Technologie und die praktischen Hürden, die mit dem Einsatz einhergehen.

Vom Umfeld zum semantischen Bedeutungsraum

Bild: True Relevance Joost van Treeck, True Relevance

Klassisches Umfeld-Targeting war lange Zeit ein grobes Werkzeug. „Eine handverlesene Auswahl einzelner Formate oder eine Buchung auf Kategorie- oder Seitenniveau – das ist weit entfernt von präzisem Targeting“, sagt Joost van Treeck, CPO und Co-Founder vom deutschen Psychografie-Spezialisten True Relevance. Ein Tiefkühlgericht lande dann „neben jedem beliebigen Rezept auf einem Kochportal. Mal passt das perfekt, etwa bei einem schnellen Nudelgericht, oft aber auch gar nicht, zum Beispiel neben einem aufwendigen Drei-Stunden-Rezept“.

Der Unterschied zu heutigen KI-gestützten Lösungen ist laut van Treeck fundamental. Moderne Systeme analysieren Videos „Frame für Frame und erkennen, wo ein Produkt thematisch und emotional andockt“. Als Beispiel nennt er Röstkaffee-Werbung „genau in der Filmszene, in der minutenlang über guten Kaffee philosophiert wird“. Der Fortschritt liege hier insbesondere darin, dass Relevanz nicht mehr auf semantischer, sondern auf psychologischer Ebene verstanden werde.

Bild: Seedtag Johannes Paysen, Seedtag

Auch Johannes Paysen, Managing Director DACH beim spanischen Contextual-Anbieter Seedtag, sieht einen Paradigmenwechsel: „Klassisches Umfeld- oder Contextual Targeting gehört der Vergangenheit an. Nicht, weil es verschwindet, sondern weil KI es auf ein neues Level hebt.“ Er spricht in diesem Fall von “Neuro-Contextual Advertising”, bei dem sich die Analyse nicht auf Inhalte, sondern auf die Denk- und Entscheidungslogik der Menschen konzentriere, die diese Inhalte konsumieren. Dabei werden Inhalte über Publisher-Netzwerke hinweg mithilfe sogenannter Embeddings in semantische Vektoren überführt, um Muster und Beziehungen zu erkennen. Das ermögliche eine präzisere, skalierbare Audience-Ansprache „ohne Identifier, ohne personenbezogene Daten, ohne individuelle Profile“.

Die Tiefe der Analyse und ihre Grenzen

Bild: WPP Media Jens Depenau, WPP Media

Dass Technologieanbieter überzeugt von ihren Innovationen sind, dürfte niemanden überraschen. Doch auch die Mediaeinkäufer bestätigen, dass KI-basierte Systeme weit mehr leisten, als Schlagwörter zuzuordnen. So hat Jens Depenau, Expert Partner Data Strategy beim Agenturnetzwerk WPP Media, einen guten Überblick darüber, was die Technologie auf dem Markt bewerkstelligen kann. „Mit fortschrittlicher KI können wir Videoinhalte nicht nur oberflächlich, sondern in ihrer vollen Tiefe verstehen“, erklärt Depenau. KI könne heute Stimmungen, Themen, gesprochene Worte und die emotionale Tonalität eines Videos analysieren. Damit gehe das Verfahren „weit über einfache Keyword-Matches hinaus“ und ermögliche ein präziseres Targeting, das zudem Markensicherheit gewährleiste.

Der Agenturfachmann sieht Contextual Targeting deshalb nicht als Übergangslösung für die viel diskutierte Post-Cookie-Ära, sondern als „zunehmend strategischen und zukunftsfähigen Ansatz“. Er bilde zusammen mit deterministischen Identifiern ein wichtiges Grundgerüst, um Zielgruppen im komplexen Video-Umfeld datenschutzkonform zu erreichen.

Bild: Mediaplus Sascha Dolling, Mediaplus

Sein Mitstreiter Sascha Dolling, General Manager Global Activation Solutions bei der Serviceplan-Tochter Mediaplus, plädiert dafür, den Begriff Contextual weiter zu fassen. „Kontextuelles Targeting ist heute weit mehr, als einen Spot in einem thematisch ähnlichen Umfeld auszuliefern.“ Die Datenverarbeitung durch KI ermögliche es, „die Zielgruppe hinter dem Kontext zu verstehen – und so die Umfeldplanung zu verlassen“. Dabei widerspricht er der oft gehörten Annahme, dass die Videolandschaft zu zersplittert für konsistente Targeting-Modelle sei. „Tatsächlich teilen wenige große Broadcaster und Videoplattformen hohe Anteile der Reichweite je Land unter sich auf – was sogar gegen diese vermeintliche Zersplitterung spricht.“ Das eigentliche Problem liege im „unterschiedlichen Umgang mit User-IDs und den angebotenen Targetings zwischen den Anbietern“.

Darüber hinaus sei die Echtzeitanalyse der Videoinhalte noch eine Hürde. „Inhalte in Mediatheken können sehr wohl auf Grundlage kontextueller Signale weit über die Umfeldplanung hinaus getargetet werden“, sagt Dolling. Schwieriger werde es bei Live- oder linearen Inhalten, die „in Echtzeit in gleicher Tiefe verstanden werden“ müssten. Bis dahin bleibe noch ein Stück Weg zu gehen.

Zwischen Reichweite, Standardisierung und Skalierung

Bild: BCN Carsten Sander, BCN

Auf Vermarkterseite beschreibt Carsten Sander, Geschäftsführer von BCN, Contextual Targeting im Bewegtbild als „sinnvollen ergänzenden Baustein im Targeting-Mix“. Es sei „kein reines Übergangsmodell“, sondern besonders nützlich, wenn hohe Reichweiten in thematisch klar definierten Umfeldern gefragt seien.

In der Praxis sei das Verfahren bei BCN – ein Joint Venture von Burda, Funke und Klambt – bereits „umfassend integriert“. Sander sieht aber klare Grenzen bei der Nachfrage und der Marktreife: „Die Nachfrage nach Contextual Targeting im Videobereich bleibt stabil, jedoch nicht signifikant steigend.“ Ein Grund für das konstante Interesse sei der Fokus vieler Anbieter auf First-Party-Daten, die eine präzisere und skalierbare Zielgruppenansprache ermöglichten.

Als Herausforderung nennt Sander die fehlende Standardisierung. „Zwar existieren IAB-Kategorien als Grundlage, doch die konkrete Anwendung, also wann und wie ein Inhalt einer bestimmten Kategorie zugeordnet wird, ist nicht einheitlich geregelt und variiert je nach Publisher oder Vermarkter.“ BCN orientiere sich an der IAB Content Taxonomy und dem OVK-Contextual-Standard, um möglichst konsistent zu bleiben.

Auch Depenau sieht in der Standardisierung einen Flaschenhals. Zwar seien Video-Contextual-Lösungen bereits gut etabliert, „sofern Werbeplätze direkt oder auf großen Tech-Plattformen eingekauft werden“. Im Gegensatz zum Display-Bereich fehlten aber übergreifende Data-Only-Modelle, die sich einfach über DSPs oder SSPs buchen ließen. „Die volle Marktabdeckung und volles Skalierungspotenzial haben wir jedoch noch nicht erreicht“, sagt Depenau und fordert „weitere Zusammenarbeit aller am Markt agierenden Player“.

Messbarkeit ohne Identifier

Das große Versprechen von Contextual Targeting liegt darin, Relevanz ohne personenbezogene Daten zu schaffen. Doch wie lässt sich der Erfolg messen, wenn keine Identifier genutzt werden? Für van Treeck können dafür bekannte Metriken aus der klassischen TV-Werbung herhalten. „Video ist von Natur aus weniger performanceorientiert, weil es selten direkte Absprungpunkte gibt“, sagt er. Entscheidend sei, „dass Inhalte im passenden Kontext nachweislich besser erinnert werden“. Diese Wirkung sei vielfach belegt und lasse sich nun durch moderne Verfahren systematisch nutzen.

Paysen nennt konkrete Kennzahlen: „Typische KPIs umfassen Viewability, View-Through-Rate und Video-Completion-Rate, die Aufschluss darüber geben, wie effektiv Inhalte gesehen und konsumiert werden.“ Ergänzend könnten Brand-Lift-Studien oder Attention-Analysen Aufschluss über den Impact im Upper Funnel geben. Auch wenn Measurement auf Nutzerebene, im Lower Funnel, schwierig bleibe, ermögliche der kontextuelle Ansatz eine kontinuierliche Optimierung „auf Basis von Echtzeit-Kontextsignalen“. Die Experten sind sich also einig, dass sich der Erfolg kontextueller Kampagnen weniger an individuellen Nutzerreaktionen als an Markenwirkung, Aufmerksamkeit und Passung zum Content bemisst.

Kanalübergreifender Einsatz

Ein maßgeblicher Faktor für die Zukunft des Contextual Targeting liegt in seiner Fähigkeit, über Kanäle hinweg zu funktionieren. Van Treeck berichtet, dass seine Systeme „Contextual-Matches heute schon kanalübergreifend umsetzen“ – von CTV über Online-Video bis Digital-Out-of-Home und Audio. Die Herausforderung bestehe darin, „die Ergebnisse in die jeweiligen Einkaufslogiken und Systeme der verschiedenen Plattformen zu übersetzen“.

Während klassisches kontextuelles Targeting traditionell auf das Open Web limitiert war, wo Metadaten auf Seitenebene verfügbar sind, sieht Paysen ebenfalls Potenzial für einen Omnichannel-Ansatz: „Modernes kontextuelles Targeting auf Basis neurowissenschaftlicher Ansätze ermöglicht kanalübergreifende Kampagnen auf CTV- und Video-Umgebungen sowie dem Open Web.“ Entscheidend sei, dass Kampagnen über alle Kanäle hinweg konsistent optimiert werden können.

Kein Kompromiss, sondern Baustein für Privacy First

Contextual Targeting rückte zunächst als eine Art Notlösung für das Post-Cookie-Zeitalter ins Rampenlicht, jedoch hat es diese gestiegene Aufmerksamkeit durchaus verdient. Die Experten sind sich einig, dass kontextuelle Ansprache in Bewegtbild das Potenzial hat, Relevanz ohne personenbezogene Daten zu liefern. Denn KI-basierte Systeme, psychografische Analysen und semantische Modelle schaffen ein neues Verständnis von Relevanz über Inhalte, Emotionen und Bedeutungen – ohne auf Nutzerprofile zurückzugreifen.

Doch der Weg hin zu einem eigenständigen Planungsparadigma ist noch nicht abgeschlossen. Die Technologien sind leistungsfähig, während es an der Echtzeitverarbeitung und Standardisierung teilweise noch hapert. Reichweite und Präzision stehen weiterhin in einem Spannungsverhältnis, das anscheinend erst durch gemeinsame Marktinitiativen aufgelöst werden kann.

Gleichzeitig wächst das Bewusstsein, dass Contextual Targeting nicht bloß eine Ersatzlösung ist, sondern ein Baustein für eine neue, datenschutzkonforme Werbewelt. „Marketer sollten Neuro-Contextual als eines von mehreren entscheidenden Werkzeugen aus ihrer Privacy-First-Toolbox begreifen“, sagt Paysen. Oder, wie van Treeck es formuliert: „Entscheidend ist, dass Produkte genau in den relevanten Umfeldern auftauchen.“ Und das wird zunehmend ohne ID umgesetzt.

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