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ONLINE VERMARKTUNG - Interview mit Carsten Sander, BCN

Vermarktung im Umbruch: Der Tech-Stack zwischen Mensch und KI

Anton Priebe, 14. Juli 2025
Bild: Agnes – Adobe Stock Bild: Agnes – Adobe Stock

Kaum ein Bereich der Werbeindustrie steht derzeit so unter Transformationsdruck wie die Vermarktung. Der schleichende Abschied vom Third-Party-Cookie, verschärfte Datenschutzregeln und wachsende Anforderungen an Effizienz sowie Nachhaltigkeit zwingen die Vermarkter technologisch wie strategisch zum Umdenken. Künstliche Intelligenz erhält Einzug in den Arbeitsalltag und bringt ein Effizienzversprechen mit, liefert jedoch oft nur weiteres Buzzword-Bingo. Carsten Sander, Geschäftsführer Technologie bei BCN, spricht im Interview über den notwendigen Wandel im Tech-Stack der Vermarkter, den realistischen Einsatz von KI und datenbasierte Entscheidungsprozesse jenseits klassischer Zielgruppenmodelle. Außerdem beleuchtet er, warum echte Innovation nicht in Echtzeit passieren muss und menschliche Expertise im Zeitalter der Automatisierung wichtiger denn je ist.

Bild: BCN Carsten Sander, BCN

ADZINE: Carsten, magst du kurz beleuchten, wer hinter BCN steckt und wer zum Portfolio gehört?

Carsten Sander: Sehr gern. BCN ist 2024 als Joint Venture aus den Medienhäusern Burda, Funke und Klambt entstanden. Ein Jahr später kam dann Burdaforward als Mandant hinzu. Deren Verkaufsapparat ist nun vollständig bei uns integriert. Ich selbst war seit Januar CTO bei BCN und bin seit Juni Teil der Geschäftsführung. Wir vertreten über 300 Medienmarken, darunter Focus, Grazia, TV Spielfilm, ADAC Motorwelt, Bild der Frau, Gofeminin und viele mehr. Das tun wir crossmedial über Digital, Print, Social, Podcast und Events. Allein im Online-Bereich erreichen wir eine digitale Nettoreichweite von 57 Millionen.

ADZINE: Und ihr bringt eigene Technologie mit?

Sander: Ja. Wir sind angetreten, um ein Betriebssystem für crossmediale Vermarktung zu entwickeln. Dort, wo Eigenentwicklung keinen Sinn ergibt, gehen wir Partnerschaften ein, etwa beim Adserver. Gleichzeitig bauen wir intern Tools wie beispielsweise ein eigenes Tech-Management-Framework. Herzstück ist ein auf uns angepasstes Buchungssystem, das Print- und Digitalkampagnen über den gesamten Kampagnenprozess hinweg integriert. Unser Ziel sind eine zentrale Datenbasis, schnelle Entscheidungen und mehr Effizienz.

ADZINE: Du warst bereits vor der Jahrtausendwende im Vermarktungskosmos aktiv. Was hat sich im Laufe der Jahre am stärksten verändert?

Sander: Lange Zeit war ich tatsächlich der Einzige, der in diesem Bereich tätig war und ich hatte niemanden, mit dem ich mich austauschen konnte. Irgendwann kam ein Anruf von Alexander Schott, von einem Mitbewerber, und dann waren wir zu zweit.

Es war damals eine grüne Wiese. Es gab kaum Standards und jeder Publisher nannte seine Formate anders. Ein „Nord-Banner“ bei Yahoo war woanders ein „Fullsize“. Wenn man eine Kampagne geplant hat, musste man alles mühsam abgleichen. Heute gibt es etablierte Standards, etwa durch das IAB, die auch die Basis für moderne Formate wie Connected TV geschaffen haben. Auch technologisch war es ein ganz anderes Arbeiten. Vieles lief manuell, Programmatic war kein Thema. Erst mit der Einführung von Open RTB wurde der Markt wirtschaftlich skalierbar.

Ein großer Unterschied ist auch, dass die Beziehung zu Technologieanbietern partnerschaftlich war. Ich habe mit Double Click gemeinsam Features entwickelt. Heute ist Google eher Frenemy. Man wird nun eingeladen, um zu erfahren, wie die Zukunft aussieht, und nicht, um zu besprechen, was man gemeinsam erarbeiten könnte.

ADZINE: Was sind aus deiner Sicht aktuell die größten Herausforderungen in der digitalen Vermarktung?

Sander: Der Übergang in eine cookiefreie Zukunft ist definitiv eine zentrale Baustelle. Auch wenn Google das Ende von Third-Party-Cookies wieder verschoben hat, sinkt die Reichweite seit Jahren. Trotzdem machen viele weiterhin gutes Geschäft damit. Auch bei uns generiert der programmatische Open Market noch signifikante Umsätze. Bei uns kommt letztlich nur ein Preis an und wir wissen nicht genau, auf welchen Daten ein Gebot basiert. Aber vieles läuft sicher noch auf Cookies.

Gleichzeitig investieren wir stark in Alternativen. Wir haben mit der Konsolidierung genau deshalb Kräfte gebündelt: drei große Medienhäuser, ein Vermarkter, ein zentraler Datenansatz. Damit können wir neue Konzepte umsetzen, etwa rund um First-Party-Daten und ID-Lösungen.

Datenschutz ist eine weitere Herausforderung. Ohne vernünftige, wirtschaftlich tragfähige Rahmenbedingungen können wir keine modernen Datenstrategien umsetzen. Es braucht mehr Verständnis auf europäischer Ebene dafür, wie Datennutzung sinnvoll und fair geregelt werden kann, sowohl im Sinne des Nutzers als auch des werbefinanzierten Journalismus. Wenn es uns nicht gelingt, das Open Internet mit einem Finanzierungsmodell zu erhalten, geht für die Nutzer eine unfassbare Vielfalt an Informationen verloren.

ADZINE: Welche Rolle spielt KI dabei, diese Herausforderungen zu bewältigen?

Sander: KI hilft uns durch Automatisierung vor allem dabei, Prozesse effizienter zu gestalten. Wenn beispielsweise ein Briefing eingeht, kann ein LLM es analysieren und automatisch passende Produkte vorschlagen, nach Marken, Themen, Zielgruppenaffinitäten. Das spart zwar Zeit im Verkauf, ersetzt aber nicht die menschliche Einschätzung.

Bei der Kampagnenoptimierung hingegen arbeiten wir schon ewig mit Algorithmen zur Automatisierung. Dass klassische Adserver Performance-Daten berücksichtigen, muss man nun nicht KI nennen. Aber mit KI können wir diese Entscheidungen intelligenter und breiter treffen, zum Beispiel durch dynamische Floor Prices oder Forecasting.

Besonders spannend wird es bei der systemseitigen Optimierung. Warum bei jeder Impression fünf SSPs anfragen, wenn man weiß, dass nur zwei relevant bieten? Mit historischen Daten können wir Modelle trainieren, die nur noch relevante SSPs berücksichtigen. Das spart Rechenlast, reduziert Datenverkehr und unterstützt Nachhaltigkeit.

ADZINE: Stichwort Nachhaltigkeit – wie passt der energiehungrige KI-Einsatz zu umweltschonender Technologie? Das klingt doch paradox?

Sander: Das ist der Grund, warum wir KI nicht in allen Bereichen und nicht in Echtzeit einsetzen. Wir arbeiten iterativ. Modelle werden zum Beispiel wöchentlich aktualisiert. Die Rechenlast ist begrenzt, die Effizienzgewinne dafür signifikant. Außerdem besteht die Möglichkeit, diese energiehungrigen Prozesse mit erneuerbarer Energien zu fördern.

Aber der Schlüssel liegt darin, KI gezielt einzusetzen. Nicht jeder Anwendungsfall ist sinnvoll. Nur weil ein Chatbot mir die gestrige Focus-Reichweite ausspucken kann, heißt das nicht, dass das wirklich produktiv ist. Die Zahl steht ohnehin im Dashboard.

ADZINE: Wird menschliche Expertise irgendwann überflüssig?

Sander: Im Gegenteil. Das Smarte in unserem Tech-Stack, “Smart Stack”, sind die Menschen. KI hilft, Muster zu erkennen, Entscheidungen vorzubereiten. Aber das finale Urteil trifft bei uns ein Mensch. In Bereichen mit enormem Datenvolumen kann KI Dinge leisten, mit denen der Mensch überfordert wäre. Hier wünsche ich mir, dass unser Team öfter die KI mit einbezieht. Aber sie ersetzt kein logisches, menschliches Denken.

ADZINE: Welche Potenziale siehst du für die nahe Zukunft in dem Bereich?

Sander: Ein spannender Bereich sind sogenannte „Agents“, also KI-Systeme, die Aufgaben wie Briefing-Übersetzung oder Kampagnenanlage übernehmen. Ich arbeite gerade an einem Konzept, wie wir Printbuchungen automatisierter abbilden können, indem ein Agent ein Agenturbriefing in unsere interne Sprache übersetzt und passende Titel auswählt.

Die Idee ist, eine Brücke zu schlagen zwischen der oft komplexen Verlagswelt und der Wunschrealität auf Agenturseite. Das spart Zeit, senkt Fehlerquellen und wird schneller Realität, als viele glauben.

ADZINE: Dann werfen wir zum Abschluss noch einen Blick in die Zukunft. Spulen wir fünf Jahre vor. Wie sieht datengetriebene Werbung dann in drei Begriffen aus?

Sander: Erstens: Bewegt. Videoformate, die über klassische Player hinausgehen, werden eine neue Wertigkeit erzeugen. Wir denken darüber nach, wie wir Display-Flächen dynamisch für emotionales Storytelling nutzen können, ohne dass sie stören, aber mit Wirkung.

Zweitens: Aufmerksamkeitsstark, Stichwort Attention. Denn nur wenn Werbung gesehen wird, kann sie wirken.

Drittens: Signalbasiert. Klassisches Targeting wird zunehmend durch algorithmische Mustererkennung ersetzt. Es ist dem System egal, ob jemand männlich, 35 ist. Es zählt, welche Signale zu Performance führen. Welche davon triggern, entscheidet am Ende der Algorithmus. Da kannst du noch so vorgeben, was du glaubst oder welche Planungsgrundlagen du hast.

ADZINE: Danke für das Gespräch!

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