Die TV-Landschaft befindet sich im Umbruch. Technologische Innovationen und sich wandelnde Zuschauerbedürfnisse verändern sowohl die Konsummuster als auch die Werbemöglichkeiten beim Fernsehen. Die Digitalisierung hat Connected TV (CTV) und Addressable TV (ATV) zum Aufstieg verholfen und darüber hinaus auch die klassische TV-Werbung “programmatisiert”. Im Rahmen des Programmatic TV (PTV) buchen Advertiser ihre Kampagnen im linearen Fernsehen programmatisch ein und steuern sie in Echtzeit an alle Zuschauer:innen aus. ADZINE hat sich in der Branche umgehört, welche Vor- und Nachteile Programmatic TV in der Werbepraxis hat und beleuchtet den Status quo.
“Der Big Screen steht immer mehr im Zentrum der Werbemarktnachfrage”, ist Andreas Diwisch, Director Advanced TV & Ad Products von Seven.One Media, überzeugt. “Gründe hierfür sind und bleiben die hervorragende audio-visuelle Wirkung von Spots, die im Digitalen zielgenau targetiert ausspielbar sind.” Entsprechend steige die Nachfrage nach CTV- und Addressable-TV-Reichweiten stark an. “Dem kommen wir mit unserem starken Big-Screen-Portfolio, insbesondere auf Joyn, entgegen”, so Diwisch. Zum Portfolio gehört auch Programmatic TV.
PTV als Automated Booking
Die Begrifflichkeiten in dieser digitalen und fragmentierten TV-Werbelandschaft können durchaus verwirren. Unter “Advanced TV” werden im Allgemeinen alle TV-Werbedisziplinen zusammengefasst. Dazu zählt unter anderem Connected TV (CTV), womit meist Werbung auf Streamingplattformen, über Set-Top-Boxen oder auch Konsolen gemeint ist, die an den großen Bildschirm angeschlossen sind. Addressable TV (ATV) hingegen liefert Werbemittel mittels des HbbTV-Standards dynamisch aus und kann sowohl L-förmige Banner (sogenannte Switch-ins) als auch Spots (mit Auflagen) gezielt ins lineare Programm transportieren. Programmatic TV (PTV) wiederum eröffnet Werbekunden “nur”, ihre klassischen TV-Kampagnen bei den Sendergruppen programmatisch abzuwickeln. “Meiner Ansicht nach ist ‘Programmatic TV’ eine Version von ‘Automated Booking’”, sagt Clara Diehl, Managing Partner von der Omnicom-Tochter Hearts & Science Germany. “Meistens wird davon ausgegangen, dass bei Programmatic TV eine selektive Ansteuerung von einzelnen Geräten möglich ist, aber es ist aktuell lediglich eine andere Einkaufsart des klassischen linearen – und vor allem nationalen – TVs.”
Dies ist technisch jedoch alles andere als trivial und hat den TV-Häusern hohe Investitionen abverlangt. “Der Markt ist fragmentierter denn je”, erklärt Andreas Diwisch. “Nutzer wünschen sich Plattformen, die möglichst viele Bewegtbildinhalte aggregiert anbieten. Der Werbemarkt wiederum benötigt aggregierte Reichweiten über einen möglichst einfachen Buchungsweg. Beide Bedürfnisse sorgen dafür, dass sich die Digitalisierung von TV in den letzten Jahren massiv beschleunigt hat.” Prosieben setzt auf seine Advanced-TV-Produkte, um sein Kerngeschäft zu transformieren. “Mit Programmatic TV haben wir als erstes deutsches Medienhaus TV-Werbung für die programmatische Buchung geöffnet. Gemeinsam mit unseren Experten bei Virtual Minds haben wir dazu TV an die Tech-Strecke angeschlossen und letztes Jahr mehr als 100 Kampagnen umgesetzt”, betont Diwisch.
Planungs-, Optimierungs- und Reportinglogiken ausbaufähig
Die TV-Häuser haben das große Potenzial und auch die Notwendigkeit der Digitalisierung von klassischer, linearer TV-Werbung erkannt und treiben den damit verbundenen Entwicklungspfad voran, glaubt Ricarda Jebsen, Geschäftsführerin der D-Force. Das Joint Venture von RTL und Prosieben existiert seit 2019 und soll den technischen Support für Advertiser und Agenturen mit Blick auf die programmatische Infrastruktur gewährleisten. Laut Jebsen geht es nun neben digitalen Ausspielungslogiken auch um die Implementierung entsprechender Planungs-, Optimierungs- und Reportinglogiken, die die Integration von linearer TV-Massenreichweite nach einheitlichen Kriterien und Systematiken ermöglichen.
Damit trifft sie auf Agenturseite einen Nerv. Denn bei PTV wie auch bei anderen TKP-Modellen, die derzeit im Markt sind, sei momentan eben keine Netto-Reichweitensteuerung möglich, bekräftigt Andrea Zenner, Managing Partner Media Consulting der Groupm. “Netto-Reichweite ist aber in der Regel ein Kern-Media-Ziel für TV-Kampagnen. Zudem können zurzeit keine bis wenige qualitative Vorgaben, wie zum Beispiel Umfeldausschlüsse, Must-Have-Umfelder oder auch Primetime-Anteile, definiert werden.” Für Kunden, die TV aufgrund seiner Stärke buchen, bringe PTV demnach aktuell qualitativ keine Vorteile, so die Agenturfachfrau.
Einstiegstor für Digitalkunden – allerdings nur mit Targeting
Vorteile sind schon vorhanden, allerdings muss genau hingeschaut werden. So nennt Mitstreiterin Clara Diehl den garantierten Zielgruppen-TKP als Plus und auch Zenner erwähnt den Buying-TKP als möglichen Effizienzvorteil. Bewertbar sei das sauber aber erst im Nachgang, da Anteile von Primetime und großer Sender auf den klassischen TKP einen massiven Einfluss haben. “Diese stehen bei PTV aber erst hinterher fest. Zudem kommen technische Kosten zu den Media-Kosten dazu”, so Zenner. Sie sieht PTV als möglichen Einstieg für Digitalkunden ins klassische TV.
Das Targeting bleibt ein kritischer Punkt. So findet Diehl den Ansatz der kontextuellen Cluster spannend, über den eine Kampagne mit Programmatic TV automatisiert ausgesteuert werden kann. “Aber auch das ist bisher nicht in der Breite angekommen”, so die Expertin. Das muss auch Jebsen zugeben. “Aktuell bietet D-Force noch kein Targeting im Programmatic Linear TV an. Die Erwartungshaltungen des Marktes sind aber verstanden, und daran werden wir uns orientieren.” Zum Standardinstrumentarium gehören ihrer Meinung nach klassisches Audience Targeting wie soziodemografische Zielgruppen oder AGF-Zielgruppen und Content-Targeting wie Sport oder spezifische Line-Item-Targetings für lineare Sender und zeitbasierte Kampagnen. “Der deutsche Markt ist im Aufbruch – der österreichische mit der Verwendung von Echtzeit-TV-Nutzungsdaten zur dynamischen Optimierung von Werbeblöcken schon einen Schritt weiter.”
Eine evolutionäre Zwischenlösung oder die Zukunft des TV?
Die Möglichkeiten und Grenzen der verschiedenen Ausprägungen von Advanced TV sind demnach noch nicht final geklärt. “Um nationale Kampagnen über PTV zu buchen, müssten die Steuerungsmöglichkeiten deutlich verbessert werden”, glaubt Zenner. “Aber natürlich muss irgendwo angefangen werden. Die Digitalisierung von TV wird definitiv weiter voranschreiten.” Vor allem die ATV-Spots finden bei Andrea Zenner und der Groupm schon jetzt durchaus ihren Platz in TV-Kampagnen, da sie regional eingesetzt werden können.
Clara Diehl fällt indes ein hartes Urteil für PTV und ATV: “Meiner Einschätzung nach sind Addressable TV als auch Programmatic TV Zwischenlösungen, die sukzessive von CTV abgelöst werden.” ATV sei “das CTV von gestern”, denn CTV berge im Vergleich zum ATV-Spot signifikante Vorteile, wie das deutlich geringere Clutter oder die bessere Targetingfähigkeit. Das klassische Fernsehen könne allerdings noch immer mit seiner Reichweite punkten. Also sollte doch auch PTV entsprechend glänzen können?
Die D-Force hat die Erwartungen des Marktes, um PTV attraktiver zu machen, bereits verstanden. Auch bei Prosieben sind die Anforderungen angekommen. Andreas Diwisch erklärt, dass die Learnings aus der ersten Zeit mit PTV in das neue Produkt “Audience TV” fließen sollen. “Dabei übertragen wir die digitale Buchungslogik mit fixen Zielgruppen-TKPs und garantierter Leistung ins lineare TV.” Dazu gehört die Buchung auf Basis soziodemographischer Zielgruppen. “Wir haben eine starke Ausgangsposition. Jetzt gilt es, die Innovationen voranzutreiben, um die Stärken von TV in die digitale Zukunft zu führen”, so Diwisch. Die digitale Zukunft wird also ein Zusammenspiel der traditionellen Reichweite von TV und den präzisen Targeting-Möglichkeiten digitaler Technologien erfordern, um Werbewirkung und Kundenanforderungen zu bedienen.