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VIDEO - Thomas Servatius, Smartclip, zur neuen TV-Welt

“Wir schulden den Nutzern den Schutz ihrer Privatsphäre”

Anton Priebe, 23. November 2023
Bild: Simone Daino – Unsplash

Die TV-Landschaft befindet sich in einem Transformationsprozess. Mit dem Anschluss an das digitale Werbeökosystem und dem Streaming-Boom ergeben sich neue Möglichkeiten für Werbetreibende, Zuschauer gezielt anzusprechen und Kampagnen mitzumessen. Bislang sind die großen Budgets hierzulande jedoch weiterhin im klassischen linearen TV zu verorten. Thomas Servatius, Co-CEO und MD Platform & Technology von Smartclip, nennt im Interview Gründe für die zögerliche Verlagerung und beleuchtet Measurement- sowie Targeting-Optionen im neuen Ökosystem. Als First-Party-Video-Adserver und -SSP-System ist Smartclip ein Spezialist in der sich wandelnden TV-Welt, der sich neuerdings rein auf Adtech konzentriert. Die Vermarktungssparte ist in der RTL Ad Alliance aufgegangen, einem Schwesterunternehmen unter dem Dach des Medienkonzerns. Servatius hat somit auch einen tiefen Einblick in die Strategien der deutschen Medienhäuser, die sich mitten in der Transformation befinden.

Bild: Smartclip Thomas Servatius, Smartclip

ADZINE: Hallo Thomas, eines eurer Steckenpferde in Sachen Adtech ist der Smart-TV. Dort herrscht schon länger Goldgräberstimmung. Man wittert die großen TV-Euros und erwartet, dass die Budgets von klassisch linear in die digitale Welt geshiftet werden. Noch ist das in Deutschland allerdings nicht der Fall. Warum nicht?

Servatius: Das ist eine komplexe Frage. Zunächst müssen US-Techunternehmen immer Wachstumsstorys schreiben und diese schwappen hierüber. Wenn ein Wachstumsbereich wie CTV aufkommt, dann ist auf einmal jeder Experte dafür. Das hat aber in diesem Fall auch seinen Grund.

Denn in den USA ist der Markt stark durch den Cord-Cutting-Trend geprägt. Lineares TV war lange Zeit nur über Kabel zugänglich und die Verträge dafür wiederum waren teuer. Daher sind viele aus dem teuren, linearen TV ausgestiegen und haben auf digitales TV umgesattelt. Bei uns hingegen ist Free-TV weit verbreitet. Vorteile wie der Konsum on-demand gelten hier natürlich ebenso, aber der ökonomische Anreiz zum Wechsel ist viel kleiner. Daher hinken wir in der Entwicklung hinterher.

Außerdem ist der amerikanische Markt deutlich fragmentierter. Ein großer Sender hat dort zwei oder drei Prozent Marktanteil, dementsprechend sind die Streaming-Angebote der Sender ebenfalls fragmentierter. Das ist in Deutschland anders. Hier können zum Beispiel die Reichweiten der Streaming-Angebote mit denen des linearen TV gebündelt werden, was in den USA nicht möglich ist.

ADZINE: Die Reichweiten zu verbinden, ist die eine Sache. Sie zu messen eine andere. Könnte eine einheitliche Messung nicht der treibende Faktor sein, um den Shift der Budgets anzukurbeln?

Servatius: Messung ist zum gewissen Teil Marktpolitik. Wer misst, verteilt das Geld im klassischen TV. Wir betrachten Messungen als Investitionsfeld, wollen aber nicht ins politische Spiel einsteigen oder Marktstandards entwickeln.

Unabhängig davon sind übergreifende Messungen notwendig, um Werbewirkung kanalübergreifend optimieren zu können. Wir haben Realytics gekauft, um diesen Bedarf der Advertiser zu bedienen.

ADZINE: Was steckt hinter Realytics?

Servatius: Realytics wurde 2010 in Frankreich gegründet und kommt aus der klassischen TV-Attribution. Inzwischen kann die Lösung CTV, ATV und lineares TV übergreifend messen. So bieten wir Advertisern deduplizierte und inkrementelle Reichweite an.

ADZINE: Wie funktioniert das?

Servatius: Die klassische Herangehensweise bei der TV-Attribution ist probabilistisch. Man setzt einen Tag auf die Seite des Advertisers, misst den Traffic im Normalzustand und schaut genauer hin, wenn eine Werbung im TV ausgestrahlt wird. Steigen Nutzerinteraktionen auf der Website direkt nach der Ausstrahlung? Verändern sich die Besucherzahlen in einem gewissen Zeitraum danach?

Realytics arbeitet hingegen deterministisch. Die Lösung erstellt eine Haushalts-ID für anonymisierte IP-Adressen. Dazu bildet sie Mikrozellen, bündelt also mehrere IP-Adressen, um Unschärfe zu erzeugen. So kann sie aber immer noch zu circa 93 Prozent einen Match von Usern im ATV-, CTV- und Online-Video-Bereich vorhersagen.

ADZINE: Lasst uns auf die andere Seite der Medaille schauen – das Targeting. Online-Advertiser stellen hohe Erwartungen an die Targeting-Optionen im digitalen TV. Inwiefern kann das digitale Fernsehen denen gerecht werden?

Servatius: Besser als klassisch Digital, denn wir haben einen großen Vorteil: Panels. Dank der Panels wie etwa von der AGF mit 4.000 oder 5.000 Haushalten wissen wir sehr genau, wer was guckt. Das wissen wir sogar genauer als beispielsweise Google. Wir bekommen neben demographischen Daten Einblicke in Informationen zu Einkommen oder Familiengröße. So können wir sehr gut auf der Basis des TV-Sehverhaltens leistungsfähige Audience-Modelle bauen.

Dabei arbeitet man nicht auf der Basis von Informationen über den Nutzer, sondern nur des Panels und dessen, was geschaut wird. Dafür muss kein Nutzer gestalkt werden.

ADZINE: Apropos Stalking – was ist notwendig, damit sich ein gesundes Werbeökosystem rund um das “neue” TV etablieren kann?

Servatius: Wir brauchen datengetriebene Werbung, aber sie muss datenschutzfreundlich sein. Wir dürfen nicht die Fehler wiederholen, die im programmatischen Ökosystem gemacht worden sind. Die Werbebranche regt sich über die DSGVO und die ganzen Vorschriften auf – dabei sind wir doch selbst schuld. Das exzessive Datensammeln und -teilen war weder ein nutzerfreundlicher noch nachhaltiger Ansatz. Was dabei herausgekommen ist, war eine Katastrophe. Wir schulden den Nutzern den Schutz ihrer Privatsphäre.

Wir müssen also ein Ökosystem schaffen, in dem programmatische und datengetriebene Ansätze möglich sind, ohne dass die Nutzer exponiert werden. Dafür müssen wir aufhören, Datenschutz als Pflichtübung zu sehen und es als Innovationstreiber betrachten. Es gibt durchaus datengetriebene Targetingmodelle, die mit minimalen, anonymisierten oder gar keinen Nutzerinformationen auskommen und somit nicht den Nutzer missachten. Mit anonymisierten Modellen schmeißt man ja nicht gleich das komplette digitale Advertising über Bord.

ADZINE: Wir haben in Deutschland starke Medienhäuser, die für ihr kostbares, lineares Inventar hohe Preise aufrufen können. Die haben sicherlich Bedenken, dass eine Öffnung für digitale Ansätze ihre Preise kaputtmachen könnten. Sind diese Bedenken begründet?

Servatius: Ich glaube, da tust du den Broadcastern unrecht. Auch die deutsche TV-Landschaft investiert stark in Adtech. Das ist ein Transformationsprozess, der aus mehreren Wellen besteht.

Die erste Welle war die Schaffung von hybriden Modellen. Die Fernsehsender wurden in die Lage versetzt, klassisches lineares Fernsehen mit digitalen Modellen anzureichern. Wir mussten die Technologie erst einmal so weit ausbauen, dass digitale Werbeblöcke zusammengesetzt, ausgesteuert und getargetet werden konnten. Gleichzeitig ging es dabei um die Vermischung von digitaler und linearer TV-Werbung, damit der Disruptionsprozess gesteuert werden kann. Dafür haben wir auch bei RTL sehr viel investiert. Heute können wir innerhalb eines linearen TV-Werbeblocks programmatisch ein Ad über den HbbTV-Standard austauschen und das können auch andere. Technologisch ist also schon viel passiert. Es geht an der Stelle eher um die Transformation des Geschäftsmodells.

Die zweite Welle, in der wir uns aktuell befinden, betrifft hingegen die kanalübergreifende Optimierung. Werbetreibende müssen in die Lage versetzt werden, lineares, CTV-, ATV- und Online-Video-Inventar übergreifend zu optimieren. Wir müssen also das lineare TV der Broadcaster digital aufwerten, aber auch die Silos auflösen, um Ausspielungen zwischen den Kanälen zu verbessern, und dafür sorgen, dass lineares TV Performance-getriebener funktioniert. Und das geht jetzt erst so richtig los!

ADZINE: Vielen Dank für das Gespräch, Thomas!

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