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ADTECH

Cookie-Erfinder Lou Montulli: Zielgerichtete Werbung wird nicht verschwinden

Anton Priebe, 3. April 2023
Bild: Lou Montulli

Lou Montulli schrieb als 23-Jähriger den ersten Cookie der Welt. Der Web-Pionier war damals einer der ersten Netscape-Mitarbeiter und wollte mit dem Cookie lediglich einen Warenkorb online funktionstüchtig machen. Sein richtungsweisender Ansatz, Websites ein Gedächtnis zu verschaffen, wurde von der Community flächendeckend akzeptiert. Obwohl Montullis Ziel eine Eins-zu-eins-Beziehung der Websites mit ihren Besuchern war, dauerte es nicht lange, bis Startups wie Doubleclick eine Möglichkeit entdeckten, die Cookies für ihre eigenen Tracking-Zwecke einzusetzen. So legte er aus Versehen einen der Grundsteine für die milliardenschwere Digitalwerbeindustrie. Nach mehreren Gründungen arbeitet Montulli heute mit seinem Unternehmen Jet Insight an Management-Software für den privaten Flugverkehr. Im Interview spricht er mit ADZINE über die Erfindung des Cookies, den Aufstieg des digitalen Werbemarkts und seine Sicht auf die heutige Adtech-Industrie.

Bild: Lou Montulli Montulli Anfang der 1990er

Hallo Lou, wofür sollte der Cookie ursprünglich dienen? Und inwiefern hat dies den Lauf der Dinge sowohl für das Internet als auch dich persönlich verändert?

Lou Montulli: Cookies wurden erfunden, um eine Art Gedächtnis für das Internet zu schaffen. Bevor es Cookies gab, wurde jede Interaktion mit einem Webserver nicht mit früheren Besuchen in Verbindung gebracht, sodass sich eine Website weder an den Benutzer “erinnern” noch Informationen wie Warenkörbe oder Benutzereinstellungen speichern konnte. Cookies ermöglichten den elektronischen Handel und trugen zur Schaffung neuer Funktionen bei, die es vielen Desktop-Anwendungen ermöglichten, zu Webanwendungen überzugehen.

ADZINE: Wann und wieso lief es dann in die falsche Richtung? Warum konnten die ersten Adtech-Unternehmen den Cookie überhaupt für ihre Zwecke einsetzen?

Montulli: Die erste bekannte Verwendung von Cookies für die Verfolgung von Anzeigen erfolgte 1996 durch das Unternehmen Doubleclick. Cookies in Kombination mit Bildreferenzen von Drittanbietern und dem HTTP-Referrer-Tag ermöglichten Doubleclick die Verwendung von Cookies zur Zählung der einzelnen Anzeigenimpressionen und der Gesamtzahl der geschalteten Anzeigen. Diese Art von Cookie wird als Third-Party-Cookie bezeichnet und ist das, was die Adtech-Unternehmen auch heute noch verwenden, um die Anzahl der Anzeigen zu verfolgen und gezielte Werbung zu schalten. Als Reaktion darauf führte Netscape Benutzerkontrollen ein, die es jedem Einzelnen ermöglichen, Cookies von Drittanbietern oder von einzelnen Websites zu deaktivieren.

ADZINE: Was war deine Reaktion darauf und was ging in dir vor, als du im späteren Verlauf das Milliarden-Business der digitalen Werbeindustrie hast emporsteigen sehen?

Montulli: Anzeigen haben dazu beigetragen, das auf offenen Standards basierende Web in den Mainstream zu bringen und geschlossene Systeme wie AOL und MSN auszustechen; in dieser Hinsicht können sie als positiv betrachtet werden. Der Nachteil ist, dass es dem Web nicht gelungen ist, andere Einnahmequellen für inhaltsorientierte Websites zu finden. Dies hat zu einer “Aufmerksamkeitsökonomie” und vielen soziologisch negativen Auswirkungen geführt, da Websites um unsere Aufmerksamkeit und ihre Werbeeinnahmen konkurrieren. Ich hoffe, dass wir andere Formen der Monetarisierung finden können, die dazu beitragen, Qualität über Quantität zu stellen.

ADZINE: Wie würdest du das heutige Adtech-Ökosystem beschreiben?

Montulli: Web-Anzeigen bieten viele Vorteile gegenüber früheren Werbemodellen. Im Fernsehen und in Printmedien hatten Werbetreibende keine Möglichkeit, das Engagement oder den ROI genau zu messen, während Web-Anzeigen klare Metriken und Berichte bieten, mit denen Werbetreibende die Wirksamkeit ihrer Werbekampagnen messen können. Das Technologie-Ökosystem rund um Web-Anzeigen ist inzwischen auf ein Milliardenvolumen angewachsen und hat eine beträchtliche Dynamik entwickelt.

ADZINE: Was muss anders werden und wie würdest du dies angehen?

Montulli: Es gibt technische Mittel, um Targeting und Metriken bereitzustellen und gleichzeitig die Privatsphäre der Nutzer zu schützen. Dies kann geschehen, indem keine direkten Metriken gesammelt werden, wie bei Googles FLoC oder Topics, oder indem Daten nachträglich anonymisiert werden. Wir können und sollten auch nach anderen Wegen suchen, um Inhalte zu monetarisieren, die nicht direkt mit Werbung verbunden sind. Abonnementmodelle erleben ein Wiederaufleben, aber wir sollten auch mit Micropayments oder anderen Formen der direkten Bezahlung für Qualitätsinhalte experimentieren.

ADZINE: Es ist fast 30 Jahre her, seit du den Cookie erfunden hast und parallel die ersten Online-Banner online gingen. Wie lautet deine Prognose für die Digital-Werbeindustrie für die nächsten 30 Jahre? Oder anders gefragt: Welche Entwicklungen stellen die Weichen für die kommenden Jahrzehnte der Online-Werbung?

Montulli: Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass zielgerichtete Werbung verschwinden wird, es sei denn, sie wird von den Regierungen ausdrücklich verboten; wir können jedoch weiterhin daran arbeiten, die Privatsphäre der Nutzer in diesem Ökosystem zu schützen. Die Werbefirmen sollten weiterhin versuchen, das richtige Gleichgewicht zwischen der Nachverfolgung von Werbung und dem Schutz der Privatsphäre der Nutzer zu finden, sonst riskieren sie erhebliche staatliche Eingriffe.

Wir sollten auch nach besseren Möglichkeiten suchen, um für Inhalte zu bezahlen. Der Qualitätsjournalismus hat in unserem derzeitigen werbefinanzierten Modell einen deutlichen Rückgang erlitten, was für die Gesellschaft im Allgemeinen schlecht ist. Technologen sollten sich zusammenschließen, um bessere Methoden zur Finanzierung wirklich wichtiger Inhalte zu finden.

ADZINE: Danke für das Interview!

Lou Montulli ist Keynote-Speaker auf den Heores of Data & Privacy, der lösungsorientierten Daten-Konferenz am 24. und 25. Mai 2023 in Wien. Im Rahmen der Medienpartnerschaft bekommen ADZINE-Leser mit dem Code "ADZINE30" auf Standard- und VIP-Tickets 30 Prozent Rabatt. Tickets für die Veranstaltung sind hier erhältlich.

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