Dr. Alfred Heidekum ist seit 2011 bei der Düsseldorfer Agenturgruppe Publicis Media und war vorher Ressortleiter Produktionssysteme bei der Mediengruppe RTL. Seit 2014 übernahm er die Position des CTO von Werner aus den Erlen. Heidekum steht uns nun rund um das Thema Adtech Rede und Antwort.
Adzine: Laut jüngster OMG-Befragung suchen Mediaagenturen zunehmend Mitarbeiter mit neuen Skills, eher Mathematiker und Datenspezialisten anstatt Wirtschaftswissenschaftler. Wie ist die Lage bei Publicis Media?
Alfred Heidekum: Als wir vor zehn Jahren anfingen, unseren Technologiebereich aufzubauen, hatten wir wirklich Schwierigkeiten, die richtigen Mitarbeiter zu finden. Wahrscheinlich auch, weil wir zunächst die eierlegende Wollmilchsau gesucht haben. Inzwischen sind wir in Deutschland ein Team von 70 Mitarbeitern und halten vor allem noch nach Softwareentwicklern für den Bereich Data und Tech Ausschau. Dabei setzen wir keine Erfahrungen im Mediabereich voraus. Was wir brauchen, sind Bewerber mit einem analytischen Verständnis. Das Mediabusiness bringen wir ihnen dann schon bei.
Adzine: Was sind denn neben HR-Fragen die derzeit größten Herausforderungen für eine Mediaagentur im Adtech-Bereich?
Heidekum: Es gibt ein so großes Bukett, womit wir uns aktuell beschäftigen. Insofern ist es zunächst einmal die Abwägung von Prioritäten, welche Themen wir in den nächsten sechs Monaten angehen sollten.
Adzine: Und welche sind das aktuell?
Heidekum: Eins unserer Top-Themen ist die Weiterentwicklung von Programmatic Advertising hinein in weitere Mediengattungen neben Online. Hier haben wir in den vergangenen Wochen Präzedenzfälle im Bereich DOOH, Radio und TV geschaffen. Außerdem beschäftigt uns weiterhin die Frage, wie wir Online-Bewegtbild und TV zusammen aussteuern können. Wir haben unsere international prämierte Steuerungssystematik X-Cross in den vergangenen Jahren auf- und ausgebaut. Da geht es darum, wie wir klassische Werbeformen digital verlängern bzw. miteinander kombinieren. Mit X-Cross können wir Online-Videowerbung in Abhängigkeit zu einem klassischen TV-Kontakt in der richtigen Zielgruppe auch auf YouTube und Facebook ausspielen.
Adzine: Was sind dabei die technologischen Abläufe?
Heidekum: Wir arbeiten mit einer eigenen Data Management Platform (DMP). Wir bekommen die Daten aus einem Single Source Panel der GfK, von denen wir wissen, ob ein TV-Kontakt vorlag oder nicht und von dem wir wissen, ob ein Online-Videokontakt vorlag. Diese Daten laufen in unsere DMP, und wir erweitern sie über eine Look-Alike-Methode auf unsere Gesamtnutzerschaft in der DMP. Daraus bilden wir Segmente. So können wir beispielsweise jüngere Zielgruppen, die wir im TV so nicht mehr erreichen, mit Online-Video ansprechen, um auf die vom Kunden gewünschte Kontaktdosis zu kommen.
Adzine: Mit welchen KPIs wird denn dort gearbeitet?
Heidekum: Mit Kontaktklasse und Nettoreichweite, also die Nettokontakte.
Adzine: Arbeiten Sie auch mit der DMP des Kunden oder haben die gar keine eigene Data Management Platform?
Heidekum: In der Regel setzen wir für unsere Kunden die DMP auf, manche haben aber auch schon eine eigene, auf der sie selbst die Segmentierung durchführen. Das ist aber die Ausnahme. In der Ausführung werden die Daten wieder von uns rübergespielt. Unsere Agentur-DMP Titan Audience Manager unterscheidet sich von einer Enterprise-Lösung in der Hinsicht, dass wir Markt- und Mediadaten verbinden, die von einer Enterprise-DMP nicht verbunden werden können, weil sie zum Beispiel zu landes- oder marktspezifisch sind. Die Daten der Kunden-DMP werden mit unseren synchronisiert und gelten dann als weitere Datenquelle.
Adzine: Verläuft diese Synchronisation immer problemlos?
Heidekum: Nein, das verläuft nicht immer problemlos. Jeder sammelt seine Impressions unabhängig voneinander, wenn beispielsweise während der Synchronisation ein Cookie gesetzt wird, geht der Cookie möglichweise unter. Das war auch für uns eine Lernkurve. Wenn wir ein neues System anbinden, haben wir heute die Synchronisation der Cookies zwischen den Plattformen bereits nach vier Wochen abgeschlossen. Ausschlaggebend sind Frequenz und Volumen der Kampagnen. Wenn man eine zu kleine und spitze Zielgruppe hat und diese mit einer größeren DMP synchronisieren möchte, muss man Verluste von bis zu 50 Prozent der Cookies hinnehmen. Sind hingegen genügend regelmäßige Impressions angefallen, liegt der Cookie-Verlust unter 15 Prozent.
Adzine: Sind Zählabweichungen zwischen den Adservern der Agentur und der Vermarkter eigentlich noch ein Problem?
Heidekum: Eigentlich nicht. Die Zählabweichungen liegen meistens bei unter 3 Prozent. Das liegt daran, dass sich die Zählalgorithmen der Adserver angepasst haben. Wahrscheinlich liegt der Grund auch in der marktführenden Stellung des Doubleclick Adservers für Publisher. Abweichungen, die über den 3 Prozent liegen, darf man als Agentur nicht akzeptieren.
Adzine: Ist Bot-Traffic in Deutschland für die Agenturen ein Thema?
Heidekum: Aufgrund der doch überschaubaren Menge an Advertisern, Agenturen und Content-Anbietern ist Bot-Traffic hierzulande kein Thema. Wir setzen als Third-Party-Messdienstleister Nielsen DAR (Digital Audience Management) ein, und diese Metriken belegen, dass weder Ad Fraud, Cookie-Dropping noch Bot-Traffic in Deutschland Probleme darstellen. Das gilt auch für den Online-Videobereich. Allenfalls im E-Commerce könnte die Situation etwas schlechter sein.
Adzine: Wie viele Agentur-Adservern haben Sie bei Publicis Media eigentlich im Einsatz?
Heidekum: Fünf. Das liegt daran, dass die einzelnen Adserver unterschiedliche Stärken und Vorteile mit sich bringen. Außerdem haben einige Advertiser Verträge mit bestimmten Adserving-Anbietern. In dem Fall müssen wir sie dann auch einsetzen. Allerdings finden wir dieses Szenario immer seltener vor.
Adzine: Auf welches Adserversystem kommt es wirklich an, Agentur- oder Publisher-Adserver?
Heidekum: Auf den Agentur-Adserver. Die Werbung an sich wird eigentlich fast zu 100 Prozent am Ende physikalisch vom Agentur-Adserver ausgeliefert.
Adzine: Welche Kosten entstehen dabei auf Agenturseite?
Heidekum: Neben den reinen Kosten des Adservers, die volumenorientiert abgerechnet werden, kommt eine Fee unseres Kampagnenmanagements hinzu. Unser Service setzt sich aus diesen beiden Komponenten zusammen.
Adzine: Den programmatisch ausgelieferten Kampagnen wird nachgesagt, dass sie hinsichtlich ihrer Kosten intransparent seien. Die britische Publikation ‚The Guardian‘ hat dazu einen Selbsttest gemacht und Medialeistung auf den ,Guardian‘ eingekauft. Dabei stellte er fest, dass in einem Worst-Case-Szenario nur 30 Pence eines eingesetztes Pfund Sterlings des Mediabudgets tatsächlich bei dem Publisher ankomme.Wie erklären Sie sich das?
Heidekum: Es gibt mehrere technische Komponenten, die benutzt werden können, aber nicht immer zwangsläufig eingesetzt werden müssen. Auf der Publisherseite ist es das Content-Management-System, der Vermarkter-Adserver, die SSP, dann kommen auf Einkaufsseite die Agentur DSP, DMP und der Kunden- bzw. Agentur-Adserver hinzu. Wir reden hier von bis zu sechs Komponenten. Manche dieser Komponenten sind abhängig vom Mediapreis, andere nur vom I/O – Volumen. Die Verluste von 70 Prozent im Falle des ,Guardians‘ kann ich jetzt nicht genau nachvollziehen. Allerdings ist das auch der UK Markt, der schon sehr dem intransparenten und anonymen US-amerikanischen Markt entspricht. Diese Märkte sind viel kleinteiliger, und es sind viel mehr Werbungtreibende und Zwischenhändler unterwegs.
In Deutschland setzen die Vermarkter und auch wir Agenturen auf Programmatic, um eben die Kampagnen-Exekution effizienter zu gestalten. Dafür nutzen wir insbesondere Private Marketplaces, um den klassischen Mediaeinkauf programmatisch abzubilden. Hier sind die Kosten niedriger als beim herkömmlichen Mediahandel.
Adzine: Sie glauben also, in Deutschland würde man als Vermarkter nicht auf solche „Verluste“ im Programmatic Selling kommen?
Heidekum: Nein. Eher das Gegenteil ist der Fall. Deutsche Vermarkter bevorzugen derzeit ja Programmatic, obwohl dies auch bei ihnen technische Kosten generiert. Programmatic reduziert den internen Verwaltungsaufwand und die Personalkosten. Daher bekommen sie heute von den Premiumvermarktern eher das Inventar über Programmatic als über den klassischen Mediaeinkauf.
Adzine: Aber dann kommen noch weitere Dienstleister wie etwa die Qualitätsdienstleistungen für Viewability und Brand Safety hinzu, glauben Sie nicht, dass zu viele Parteien inzwischen im automatisierten Mediahandel die Hand aufhalten wollen?
Heidekum: In der Adtech-Welt ist es häufig so, dass neue Dienstleistungen von einigen Spezialanbietern angeschoben werden, die dann mittelfristig Funktionsbestandteil größerer Lösungen werden. Mittlerweiser lassen sich diese Dienste im Adserver mitmessen. Diese Services werden also zu Commodity, und dann fallen die Preise auch wieder.
Adzine: Und wer zahlt diese Qualitätsdienstleister? Die Agentur oder der Advertiser in Form einer Fee?
Heidekum: Alle technologischen Dienstleistungen werden gegenüber dem Advertiser einzeln aufgeführt. Heute haben wir 5 -7 AdTags pro Werbemittel. Diese Dienstleistungen sind entweder mit geringen oder mit gar keinen Mehrkosten für den Advertiser verbunden.
Adzine: Das heißt, Programmatic sorgt aus Ihrer Sicht nicht für Intransparenz und ist von der technologischen Kostenseite keine Black Box?
Heidekum: Von außen betrachtet kann ich verstehen, dass solche Annahmen entstehen. Die Sache ist ja auch komplex. Aber an Programmatic führt heutzutage kein Weg vorbei, und tatsächlich können alle Kostenpunkte transparent nachvollzogen werden. Jeder Advertiser sollte außerdem genau auf die technischen Kosten schauen und sie überprüfen. Wir führen diese Diskussion mit unseren Kunden regelmäßig proaktiv.
Adzine: Kommen wir am Ende noch zum Cross-Device Tracking. Sind Google, Facebook und auch Amazon für Publicis Media Walled Gardens oder wird das häufig allzu drastisch dargestellt?
Heidekum: Tatsächlich erlaubt ein Anbieter wie Amazon keinerlei Datenaustausch auf Nutzerebene. Amazon-Daten lassen sich nur auf Amazon-Umfelder über die Amazon Advertising Platform zum Mediaeinkauf einsetzen. Natürlich hätte ich als CTO liebend gern die Daten für eine Cross-Channel-Werbekampagne. Allerdings verstehe ich auch Amazon, schließlich sind diese Daten ihr Eigentum. Bei Facebook verhält es sich ähnlich. Daten haben mitunter einen höheren Wert als eine Ad Impression. Dahinter steckt also eine strategische Entscheidung der Anbieter. Auch Google ist übrigens in der Lage geräteübergreifend (Cross-Device) Nutzerkontakte zu tracken, stellt diese Informationen aber nicht zur Werbeausspielung zur Verfügung. Im Fall von Google liegt das aber im Moment eher an rechtlichen Hürden.
Derzeit können wir also auf Nettoebene feststellen, wo die einzelnen Nutzer erreicht wurden, aber wir können z.B. bei Amazon nicht angebotsübergreifend ausspielen.
Adzine: Und wie löst Publicis Media das Cross-Device-Problem?
Heidekum: Unsere Agentur-Netzwerk-Lösung beruht auf einem System, bei dem wir deterministische Daten mit Annahmen verbinden. Dazu arbeiten wir in den USA mit dem Telekommunikationsanbieter Verizon zusammen, der dort über 30 Prozent des Marktes abdeckt und von dem wir Cross-Device-Daten erhalten. Auf dieser Grundlage haben wir probabilistische Algorithmen entwickelt, über die wir die restlichen zwei Drittel der Nutzer abbilden. In Deutschland setzen wir dieselben Algorithmen ein, um Nutzer geräteübergreifend zu tracken und überprüfen die Kampagnen dann regelmäßig über Stichproben mit Nielsen Daten (DAR).
Adzine: Herr Heidekum, vielen Dank für das Gespräch!
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