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Echt Zeit für Echtzeit?

Wolfgang Bscheid, 7. Februar 2011

Wenn sich sogar der Spiegel dieser Tage dem Fachthema Echtzeitwerbung auf dem Titel widmet, muss das eigentlich ziemlich heiß sein. Eigentlich, denn nicht nur bei diesem Artikel, sondern auch bei einigen anderen Beiträgen in Fach- und Wirtschaftsmedien lohnt der zweite Blick. Und da zeigt sich: Etliches von dem, was dort derzeit unter Realtime Bidding (RTB) oder Echtzeitwerbung aufgeführt wird, ist alter Wein in neuen Schläuchen.

Da werden Marktplätze mit automatischen Handelsmodellen für klassische Umfelder und Platzierungen à la AdScale & Co. beschrieben oder die Möglichkeiten von übergreifenden Targeting-Buchungen auf eher konventionelle Profilgruppen. Alles nicht wirklich neu und vor allem im Kern noch sehr weit entfernt von Realtime Bidding.

Aber von vorn:

Was ist Realtime Bidding und wie heiß ist das Thema wirklich?

Diese Entwicklung kommt aus den USA. Dort wird, Schätzungen zufolge, derzeit rund ein Prozent des Inventars via Realtime Bidding verkauft. Das ist eine noch kleine, aber bereits relevante Größenordnung. In Deutschland sind wir von dieser Entwicklung noch relativ weit entfernt. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen.
Realtime Bidding bedeutet im Grunde nicht mehr, als dass Mediaangebote in Echtzeit gehandelt werden. Wenn gefrorener Orangensaft und Zement in Echtzeit gehandelt werden können, warum nicht auch Onlinewerbung. Wie an der Börse entsteht bei Auktionen die wirkliche Spannung aber aus dem Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage. Übersteigt das Angebot die Nachfrage, fällt der Preis. Ist die Nachfrage höher, steigt er. So weit, so einfach. Nur: In Deutschland gibt es derzeit kaum eine Inventarkategorie oder ein Angebot, bei dem die Nachfrage höher als das Angebot ist (Videowerbung mal ausgenommen und die möchte sowieso jeder Vermarkter gern direkt anbieten).

Wie sollen also durch Realtime Bidding die Nachfrage und damit auch die erzielbaren Erlöse steigen? Denn genau das ist ja das Leistungsversprechen gegenüber den Reichweitenanbietern. Um diese Frage zu beantworten, muss man sich den Markt und vor allem die Angebote in den USA genauer ansehen. Dort geht es schon lange nicht mehr um Standardplatzierungen oder klassisches Zielgruppentargeting, wie es von vielen Vermarktern hierzulande angeboten wird. Sondern es geht um Targeting auf wirkliche Kaufinteressenten, also auf Nutzer mit einem dokumentierten Anschaffungswunsch. Denn nur diese Selektionsmöglichkeit führt (übrigens genau wir beim Retargeting) zu entsprechend deutlichen Leistungssteigerungen in Kampagnen. Entsprechend groß sind das Interesse und damit die Nachfrage der Werbetreibenden.

Auch in Deutschland werden solche Profilinformationen zur Kampagnensteuerung eingesetzt. Bei uns läuft das aber unter dem Begriff Retargeting. Und warum? Weil es sich bis auf wenige Ausnahmen um Profilinformationen handelt, die durch und besser auf den Webseiten des jeweiligen werbetreibenden Unternehmens erhoben werden. Die Unternehmen setzen diese Daten zwar zunehmend stärker zur Aussteuerung ihrer eigenen Kampagnen ein, geben sie aber nur ungern zur allgemeinen Nutzung frei.
 
Bleiben noch die Profilinformationen, die durch den Werbeträger selbst erhoben werden können. Leider sind diese speziell in Bezug auf Kaufabsichten sehr dürftig. Websites wissen zwar sehr viel über das Informationsinteresse ihrer Nutzer, aber nicht wirklich viel über deren kurzfristige Anschaffungsplanung.

Vor diesem Hintergrund gibt es eigentlich nur zwei Perspektiven: Realtime-Bidding-Anbietern gelingt es auch in Deutschland, „aktuelle Käuferprofile“ in großen Mengen zu aggregieren und damit extrem begehrte Reichweitenselektionen zu ermöglichen. Dann haben wir den klassischen Verkäufermarkt und die Vermarkter werden deutlich höhere Erlöse erzielen. Dagegen sprechen eine derzeit eher restriktive Datenschutzsituation in Deutschland und die fehlende Bereitschaft der Unternehmen, ihre eigenen Kundeninformationen für den Handel freizugeben.

Oder Realtime-Bidding-Anbieter müssen sich mit den konventionellen Zielgruppenselektionen begnügen, wie sie Vermarkter heute zur Verfügung stellen. Dann wird sich nichts an der grundsätzlichen Marktsituation ändern. Dann haben wir nach wie vor einen Käufermarkt. Eine übergreifende Handelsplattform, die auf einem Auktionsprinzip basiert, wird diesen Angebotsüberhang nur noch deutlicher zutage treten lassen. Und in diesem Fall ist eher mit einem zusätzlichen Preisverfall zu rechnen. Denn hier reagiert leider jede Börse gleich.

Wer wird Realtime Bidding nutzen?

Es gibt noch einen anderen spannenden Aspekt in einer möglichen Realtime-Bidding-Zukunft. Werden Profile im Echtzeitmodus über neutrale Plattformen gehandelt, gewinnt (theoretisch) der Bieter mit dem jeweils höchsten Angebot. Völlig gleichgültig, ob es sich um eine Agentur mit großen Mediatöpfen oder eine kleine Agentur handelt.

Nun funktioniert der Medienhandel wie jeder andere. Wer mehr abnimmt, bekommt bessere Preise. Und wer sich die Marktentwicklung der vergangenen Jahre vor Augen führt, wird erkennen, dass die Tendenz zur Volumenballung eher zu- als abnimmt.

Wie aber soll sich dieses Ungleichgewicht in den Konditionen mit einem Auktionsmodell in Einklang bringen lassen? Entweder bleiben bei RTB individuelle Einkaufsvorteile außen vor, dann hätten die entsprechenden Agenturen sehr wenig Anreiz, ihre Budgets einzubringen. Was den Plattformen wiederum einen Großteil der theoretisch verfügbaren Volumina vorenthalten würde. Oder den RTB-Anbietern gelingt es, die Einkaufsvorteile der Großagenturen in das Auktionssystem zu integrieren. Dann wiederum würden die kleinen Agenturen kaum zum Zug kommen. 

Aufaddiert führen die erwähnten Einschränkungen dazu, dass Realtime Bidding kurzfristig in Deutschland keine so große Rolle spielen wird. Die grundsätzliche Automatisierung der Handelsprozesse aber verändert den Onlinewerbemarkt mittelfristig stark. Bis zur Echtzeit ist jedoch noch ein bisschen Zeit.

Bild Wolfgang Bscheid Über den Autor/die Autorin:

Wolfgang Bscheid ist Geschäftsführer der Media-Agentur Mediascale.

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