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MARKETING ENTSCHEIDER

Wird Lush mit Rückzug aus Facebook, Insta & Co. zum Vorbild für andere in 2022?

Sandra Goetz, 4. Januar 2022
Bild: Thought Catalog - Unsplash

„Die blaue Hölle des Internets: Facebook. Der Social Media Meta-Konzern ist das TikTok für Hässliche, das Twitter für Dumme und das Telegram für Festnetztelefonierer! Und ganz nebenbei gefährdet es die Gesundheit von Menschen, ist mitverantwortlich für Hass, Hetze, Suizide, Versklavung, Völkermorde und fackelt die Demokratien der Erde ab (…)“, wird das Youtube-Video von Jan Böhmermanns Late-Night-Gesellschaftssatire ZDF Magazin Royale verbal beworben.

Die dreißigminütige Sendung macht keinen Hehl daraus, wie viel Ernst in den Vorwürfen steckt, denen Meta im Allgemeinen und Mark Zuckerberg im Besonderen zunehmend ausgesetzt ist. Pflastern radikale Inhalte, Hate-Speech sowie Verschwörungstheorien bis hin zum internationalen Drogen-, Waffen- und Sklavenhandel die Social-Media-Wege von Facebook, Insta & Co. Und das immer nur wenige Klicks entfernt. Getan wird dagegen: So gut wie nichts.

Doch, auf Marken-Seite tut sich was, es regt sich Widerstand. Medienwirksam hat sich das globale Körperpflegeunternehmen Lush, das seine Geschäfte zumeist in sehr guter Innenstadtlage hat, von Social-Media-Plattformen verabschiedet. Bye Bye Facebook, Instagram, Snapchat und Tik Tok. Lush, 1995 in England gegründet, hat 24.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und macht mit Seifen, Duschgel und Cremes einen Umsatz von 574 Millionen Pfund (675 Millionen Euro). In Deutschland hat Lush 37 Filialen, z.B. in der Spitalerstraße (Hamburg), Friedrichstraße (Berlin), Shadowstraße (Düsseldorf) und der Bahnhofstraße in Erfurt sowie der Kaufingerstraße in München.

Es ist zwar nichts neues, dass Marken Facebook-Werbebudgets aus Protest einfrieren. – So hat es 2020 eine Initiative namens „Stop hate for profit“ gegeben, in die Hunderte aus deutscher Sicht eher unbekannte Unternehmen für eine Weile Facebook keine Anzeigen mehr geschaltet haben. – Aber von Lush kann gerade jetzt ein neues Signal ausgehen, denn noch nie waren Verbraucherinnen und Verbraucher, Bürgerinnen und Bürger so sensibel – und mit ihnen die Politik.

So treibt die EU-Kommission die beiden Gesetze für digitale Märkte (DMA) und digitale Dienste (DSA) gerade in Rekordzeit voran. Über den DMA, der u.a. Alphabet, Amazon und Meta erschweren soll, ihre enorme Marktmacht zu missbrauchen, stimmt das Plenum des Europaparlaments am 15. Dezember ab. Beim DSA, der vor allem die Verbreitung illegaler Inhalte über Internetplattformen verhindern soll, hinkte das Parlament etwas hinterher. Nun aber steht auch zu diesem Gesetz ein Kompromiss, den der zuständige Binnenmarktausschuss am 14. Dezember angenommen hat. Damit können die Verhandlungen mit den EU-Mitgliedsstaaten im Rat in der ersten Hälfte des neuen Jahres beginnen.

Auf die Umsetzung von politischen Gesetzen wollte Lush jedoch nicht warten. Der Rückzug aus genannten Social-Kanälen wird laut Pressemeldung so lange anhalten „bis diese ein sicheres Umfeld für ihre Nutzer*innen bieten. Die neuen Anti-Social-Media-Grundsätze werden in allen 48 Ländern eingeführt, in denen Lush vertreten ist“. Wir sprachen mit Tanja Hofmann, Strategy Lead für Lush Deutschland über die Bedeutung von Social Media, was es heißt, Vorbild zu sein und ob das Weihnachtsgeschäft beeinträchtigt ist.

Bild: Lush Tanja Hofmann

ADZINE: Wie wichtig war das Social-Media-Marketing für Lush?

Tanja Hofmann: Lush war schon immer eine soziale Marke. Mit dem Aufkommen der sozialen Medien, waren wir sehr gespannt auf die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben würden, mit Kund*innen in Kontakt zu treten. Wir mögen die Mund-zu-Mund-Propaganda als Marketingansatz, und die sozialen Medien schienen uns neue Instrumente und neue Möglichkeiten für den Dialog mit unseren Kund*innen zu bieten. Wir haben Social Media also seit Anbeginn genutzt.

ADZINE: Welches Momentum hat die Sichtweise auf Social Media verändert, oder war das schleichend?

Hofmann: Im Laufe der Zeit haben wir gesehen, wie sich Social Media verändert hat. In den letzten vier, fünf Jahren haben wir begonnen, uns zu fragen, welche Haltung wir dahingehend einnehmen sollten. Wir haben beispielsweise den Cambridge Analytica-Skandal verfolgt und ganz allgemein beobachtet, wie die Rolle, die diese sozialen Plattformen im Leben der Menschen spielen, in Frage gestellt wurde.

ADZINE: Und das passte nicht mehr?

Hofmann: Die sozialen Medien sollten immer eine offene Plattform sein, auf der Brands und Communities auf gute und konstruktive Weise zusammenkommen können – und wir würden uns wünschen, dass dies wieder der Fall wäre. Stattdessen können wir die negativen Auswirkungen nicht mehr ignorieren. Es gibt Beweise (dank der Facebook-Akten), dass Algorithmen verwendet werden, um ein ständiges Scrollen zu erzeugen – mit negativen Auswirkungen für die Nutzer*innen, insbesondere junge Mädchen und Frauen.

ADZINE: … genau Ihre Zielgruppe. Fühlt sich das Unternehmen hier verantwortlich?

Hofmann: Ja. Wir wissen, dass Mädchen im Teenageralter demografisch gesehen eine unserer größten Nutzerinnengruppen sind und sie informieren sich über Lush oft via Social Media. Indem wir dort aktiv sind, fördern wir unglücklicherweise diese Negativspirale. Das ist nicht unsere Absicht – war es nie und wird es nie sein.

ADZINE: Welche Rolle spielt Geld?

Hofmann: Wir haben festgestellt, dass es schwierig ist, ohne Bezahlung das erhoffte Wachstum im sozialen Bereich zu erzielen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass wir nie für Werbung auf diesen Plattformen bezahlt haben. Wir wollen mit kreativen Mitteln dafür sorgen, dass unsere Kund*innen uns auf anderen Wegen finden.

Aus kommerzieller Sicht ist es zweifellos ein Risiko – aber wir treffen eine Entscheidung, bei der der Mensch über dem Profit steht. Unsere Produkte sollen dem Wohlbefinden dienen, wir wollen uns um die Menschen kümmern – also müssen wir dazu stehen und dürfen nicht zulassen, dass diese Plattformen diktieren, wie wir mit unseren Kund*innen umgehen.

ADZINE: Lush ist global aufgestellt. Gab es unterschiedliche Social-Media-Gewichtigungen?

Hofmann: Die weltweit wichtigste Social-Media-Plattform für Lush war Instagram. Wir hatten Instagram Accounts in 48 Ländern, mit Länderaccounts sowie Shop-Accounts für unsere einzelnen Filialen. Zum Vergleich: Unser nationales nordamerikanisches Instagram-Konto hatte über 4 Millionen, der nationale UK-Account 659.000, während unsere Konten in Deutschland knapp über 100.000, in Österreich 17.500 und in der Schweiz 15.000 Follower*innen zählten.

Die Entscheidung Instagram, Facebook, Snapchat und TikTok zu verlassen war aber zu keinem Zeitpunkt an die Anzahl der Follower*innen gebunden, die wir hatten oder nicht hatten, genauso wenig an die Frage, wie viel Geld wir durch diese Entscheidung möglicherweise verlieren könnten. Wir haben diese Entscheidung getroffen, weil wir der Meinung waren und sind, dass es das Richtige ist. Wir konnten die Augen nicht vor den Beweisen verschließen ... Facebook bzw. Meta weiß, was auf seinen Plattformen passiert, und wir wissen es jetzt auch. Der Unterschied ist, dass wir nicht bereit sind, es zu ignorieren.

ADZINE: Kann Lush mit dieser Entscheidung ein Role-Model für vor allem auch global agierende Marken sein? Stichwort: Impact

Hofmann: Die Entscheidung, dass wir uns von diesen Social-Media-Kanälen verabschieden, wurde von Jack Constantine, unserem Chief Digital Officer angestoßen und letztendlich umgesetzt. Er ist bei Lush für alle digitalen Themen und Aufgaben verantwortlich. Mit seiner langjährigen Erfahrung weiß er natürlich, dass eine Entscheidung, sich von diesen weitreichenden und bedeutenden Plattformen zurückzuziehen, nicht ohne Konsequenzen auskommt. Er weiß aber auch, dass auf diesen Plattformen etwas Grundlegendes nicht stimmt. Entsprechend würde er es genau wie wir alle begrüßen, wenn andere Marken unserem Beispiel folgten und die mentale Gesundheit ihrer Kund*innen an erste Stelle setzten.

ADZINE: Es ist aber nicht so, dass Social Media komplett boykottiert wird, oder?

Hofmann: Wir kreieren nach wie vor digitalen Content, aber wir konzentrieren uns auf andere Kanäle. Wir sind aktuell noch auf Youtube, Linkedin und vereinzelt bei Twitter vertreten, nutzen diese Plattformen aber mit Bedacht. Außerdem arbeiten wir an unserem eigenen Kund*innenforum, auf dem wir mit unseren Kund*innen in den Austausch gehen können.

ADZINE: Wie wirkt sich das Insta-Goodbye aufs Weihnachtsgeschäft aus?

Hofmann: Allgemein ist die Verabschiedung von Instagram, Facebook, TikTok und Snapchat für das laufende Weihnachtsgeschäft von marginaler Bedeutung. Was eher einen negativen Einfluss auf das Weihnachtsgeschäft hat, sind durch Corona bedingte Unsicherheiten bei den Konsument*innen. Viele vermeiden inzwischen wieder die Innenstädte und damit unsere Shops zu besuchen. Unser Online-Shop kann diesen Trend ein wenig kompensieren, Online-Shopping hat auch für unsere Kund*innen klar an Bedeutung gewonnen.

ADZINE: Liebe Frau Hofmann, wir danken Ihnen für das Gespräch und wünschen dem Unternehmen weiterhin viel Erfolg.

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