Programmatic-Strategien für die Cookiekalypse: Kein Chaos, aber Unsicherheit
Frank Puscher, 16. June 2021Im Adzine-Webinar diskutierten drei große Marken ihre Probleme und Herausforderungen mit dem Verlust der Third-Party-Cookies. Die Zeichen stehen klar auf Verstärkung der Bemühungen zum Sammeln eigener First-Party-Daten. Aber die Komplexität im Markt erzeugt auch viel Konfusion.
Der, letzte Woche erschienene, Marketing Technology Report zeichnet ein düsteres Bild von Marketing-Deutschland, zumindest, wenn man die technologische Seite betrachtet. Drei Viertel der über 1.000 befragten Marketer, CMOs oder Geschäftsführer erkennen zwar, dass sie auf Dauer vermutlich ein Technologieproblem haben werden. Nur 30 Prozent sagen aber, dass sie heute schon aktiv dagegen anarbeiten und Digitalkompetenzen aufrüsten. Fast zwei Drittel (63 Prozent) fühlen sich dem Thema Daten „nicht gewachsen“ oder „eher nicht gewachsen“. Der Bericht spricht von spürbar chaotischen Zuständen.
Davon konnte im Adzine-Webinar “Programmatic-Strategien für die Cookiekalypse” keine Rede sein. Zugegeben, wer eine Einladung in dieses Format annimmt, gehört vermutlich eher zur Speerspitze der Marketinglandschaft in Sachen Daten. Repräsentativ für den deutschen Markt war die Zusammensatzung aus Montblanc, EnBW und Vodafone sicher nicht. Allerdings haben alle drei Verantwortlichen einen sehr unterschiedlichen Blick auf die Lage und auf die daraus abzuleitenden Herausforderungen. Das hat mit der Ausgangssituation und der Zielgruppe zu tun, aber eben auch mit einer schier endlosen Vielfalt an Möglichkeiten, wie man die Werbeausspielung für die nächsten Jahre neu ausrichtet.
Die größte Herausforderung
Schnell zeigte sich im Webinar, dass alle drei Marken die aktuelle Lage zwar ähnlich beurteilen, daraus aber ganz unterschiedliche Anforderungen ableiten. Maria von Scheel-Plessen, Global Head of Media & Advertising bei Montblanc, sucht gute Leute fürs Inhousing: „Wir sind mit Montblanc im Premium-Luxussegment unterwegs und für uns ist es superwichtig eine Premium-Kundendatenbank zu haben, damit wir unsere Kontakte erneut ansprechen können. Die Luxusindustrie war zu lange sehr konservativ. Jetzt versuchen wir das nachzuholen, dafür fehlen uns aber Inhouse-Kompetenzen. Die suchen wir gerade. Ich bin mir nicht sicher, ob die Mediaagentur die von uns geforderte umfassende Beratung auch tatsächlich leisten kann“.
Auch Carsten Lackner, der Head of Marketing beim Energieversorger EnBW, setzt auf First-Party-Daten, versucht aber gerade herauszufinden, wie er (rechtlich) korrekt mit diesen Daten umgeht. „Die Dynamik, die in den Block Datenschutz und Datensicherheit gekommen ist, stellt uns vor große Voraussetzungen, obwohl wir der Auffassung sind, dass wir das Thema Martech allgemein ganz gut im Griff haben“.
Und er fährt fort: „Dieses Thema muss jedes Unternehmen beherrschen, um nicht in Schieflage zu geraten. Wenn man es nicht beherrscht, ist man immer abhängig von der Rechtsabteilung und die verweisen zu Recht im Zweifel auf die hohen potenziellen Bußgelder. Das wird ein echtes Businessthema“.
Ähnlich wie Lackner kämpft auch Sven Stühmeier, Group Leader Digital & Tech bei Vodafone Germany, darum, die vorhandenen Daten besser einzusetzen: „Wir haben zwar viele Daten, aber wir müssen die erst einmal nutzbar machen, damit sie einen Wert mitbringen“. Stühmeier kritisiert die mangelnde Klarheit im gesamten technischen Teil der Branche: „Selbst TCF 2.0 ist ja keine rechtlich greifbare Reglementierung, sondern ein Industriestandard. Jedes Unternehmen geht damit anders um. Ich glaube, dass wir das Thema nie wirklich abgeschlossen haben, sondern es ein fortlaufender Prozess wird“.
Business as usual oder Panik?
Angesichts dieser großen Aufgaben und des permanent fortschreitenden Wandels könnte sich das Gefühl der Hilflosigkeit in Marketingabteilungen breit machen, wie der Marketing Technology Report berichtet. Davon sind alle drei Diskussionsteilnehmer ein Stück weit entfernt. Sowohl Stühmeier als auch Lackner sehen die permanente Veränderung als alltäglichen Teil ihres Jobs. Beide geben allerdings auch zu, nicht Cutting Edge zu arbeiten. „Bevor wir uns um CTV kümmern, müssen wir erst andere Hausaufgaben erledigt haben“, meint Carsten Lackner.
Maria von Scheel-Plessen spürt dagegen schon viel Unsicherheit in der Abteilung. „Es ist keine Panik, aber man hat das Gefühl, dass man langsam vom Zug überrollt wird. Um das zu bewältigen, müssen wir noch viel agiler werden. Es gibt viel Unsicherheit bei uns, zum Beispiel bei der Frage, ob wir jetzt in neue Technologien investieren oder noch abwarten“.
Was hingegen steht, ist die Strategie. Von Scheel-Plessen weiß genau, wofür sie Targeting braucht und welchen Anforderungskatalog sie den Agenturen vorlegt. „Wir sind in einer Luxusnische unterwegs. Zu dieser Nische kommt noch, dass wir ein sehr diverses Produktportfolio und eine eher männliche Zielgruppe haben und sehr stark auf Geschenkanlässe fokussiert sind. Alles zusammen ergibt einen enormen Datenbedarf. Wie finde ich Kunden, die online 3.000 Euro für eine Uhr ausgeben wollen? Vor Corona fand 80 Prozent des Umsatzes der Luxusindustrie offline statt. Das wird auch wieder so werden. Wie baue ich da das Attributionsmodell? Wir haben viele Kunden, die telefonisch kaufen“, so die Hamburgerin.
„Unsere Strategie hat sich dahingehend verändert, dass ich ein Audience-Framework aufgebaut habe, auf das ich je nach Kampagne zurückgreifen kann“, fährt sie fort. „Die 22 Märkte sind außerdem sehr unterschiedlich. In Europa werden wir immer noch sehr stark mit dem Stift assoziiert, in Asien haben wir das gesamte Portfolio auf einmal gelauncht. Da kaufen die Kunden auch Uhren für 5.000 bis 15.000 Euro auf dem Smartphone. Da ist Europa doch eher etwas konservativ“.
EnBW hat als regionaler Player seine ganz eigenen Anforderungen: „Das ist Chance und Risiko zugleich. Ja, in Süddeutschland sind wir fast immer im Relevant Set, aber dafür kennt uns im Norden und Westen keiner. Ein Markenwert, wie ihn Vodafone oder Montblanc haben, kann da auch vieles ausgleichen. Soweit sind wir noch lange nicht“, erklärt Carsten Lackner.
Und Vodafone ist qua Marke im Grunde für jedermann relevant. Sven Stühmeier sagt: „Natürlich braucht jeder Telekommunikation, das ist anders als Montblanc als Luxusgut oder EnBW mit einem regional eingeschränkten Angebot. Wir haben ein anderes Kreuz zu schultern, nämlich, dass Telekommunikation Commodity ist. Sie rückt dann in den Fokus der Aufmerksamkeit, wenn etwas nicht funktioniert. Ich habe noch niemand in der Fußgängerzone erlebt, der sich laut freut: ‘Heute hatte ich wieder tollen Empfang’“, schmunzelt Stühmeier.
„Also brauchen wir Daten, um relevante Kommunikationsanlässe zu finden, damit wir zum Beispiel einem Kunden nicht eine Gigabit-Leitung schmackhaft machen, obwohl in seiner Straße nur sechs Mbit technisch möglich sind“ erklärt der Telekommunikationsmanager. „Ja, es ist für uns leichter, aber durch die besonderen Bedingungen des Produktes haben wir andere Herausforderungen, die wir mit Daten lösen müssen“.
Kontext, Situation, Kohorten oder doch CTV
In puncto Targeting sind sich alle drei Marken einig, dass es in Zukunft schwieriger und „diffuser“ wird, Menschen zielgerichtet zu adressieren. Allerdings erkennen alle auch Chancen darin, dass klassische Reichweitenmedien wie Out-of-Home und Connected TV durch den Anschluss an programmatische Systeme hier ganze neue Chancen bieten. Sven Stühmeier ist der Auffassung, dass beim klassischen Datenmarketing gerne übersehen wird, ob sich der erreichte Kunde tatsächlich in einer Situation befindet, in der er aufnahmebereit und willens ist. Sein Fokus liegt darauf, die richtige Ausspielungssituation zu finden.
Montblanc ist fasziniert von den erweiterten Möglichkeiten von DOOH: „Das Thema ist super spannend“, sagt Maria von Scheel-Plessen. „Seit zwei Jahren machen wir das, weil die Locations sehr gut sind. 5th Avenue in New York oder Champs-Élysées in Paris. Das ist ja ganz handverlesen. Ich habe da eher ein Brand-Safety-Thema, wenn vor oder nach uns noch Zahnpastawerbung stattfindet. In anderen europäischen Ländern finde ich die Spots gar nicht. Und was mich auch stört ist, dass es keinen Ton gibt. Da kann ich unsere Markenbotschaft nur zum Teil wiedergeben. Manchmal platziere ich auch Spots ganz nahe an unseren Boutiquen und dann wird sogar DOOH ein Stück weit zum Performance-Kanal“.
Das gilt ähnlich für EnBW: „Außenwerbung ist historisch schon ein wichtiger Kanal für uns und wird wichtiger. Hier können wir Daten mit Situationen zusammenbringen. Wir werden hier viel schneller reagieren können. Wir schauen uns das sehr genau an, haben bisher aber noch nicht viel gemacht“.
Sven Stühmeier erkennt noch eine weitere Möglichkeit bei DOOH. „Die Stärke von DOOH ist das Situative. Die Reichweite ist nicht das Wichtigste, dafür ist DOOH auch noch nicht weit genug ausgebaut. DOOH, zum Beispiel in Malls, hilft zum Beispiel auch, schlechte User Experience zu vermeiden, wenn man ein Angebot auch wieder herausnehmen kann, das im nächsten Store nicht mehr verfügbar ist“. Revolutionär ist das aber auch für Vodafone nicht. „Das ist nur eine konsequente Weiterentwicklung. Ein Gamechanger wäre es, wenn dadurch andere Kanäle ein Stück weit abgelöst werden, da bin ich mir nicht so sicher. DOOH ergänzt das Ökosystem“.
CTV steht unterdessen nur bei Montblanc ganz oben auf der Agenda. Mit ersten Tests im letzten Jahr zeigt sich Maria von Scheel-Plessen sehr zufrieden, vor allem, weil man dank zusätzlicher (eigener) Daten den Streuverlust verringern konnte. EnBW sieht sich traditionell weniger im Bewegtbild, bei Vodafone wird CTV vor allem als Branding-Kanal eingeordnet und und ein Bekanntheitsproblem hat der Telekommunikationskonzern nicht. „Da muss man sehen, wie sich die Customer Journey auf Dauer auf den Geräten entwickelt“, sagt Sven Stühmeier.
Mit Googles neuem Datenkonstrukt FLoC haben sich alle drei bislang nicht eingehender beschäftigt. Carsten Lackner setzt ohnehin auf einen Google Tech Stack und ist davon überzeugt, dass seine Teams das zu gegebener Zeit im Griff haben. Sven Stühmeier sieht vor allem auch die Unterscheidung zwischen Bestands- und Neukunden als spannende „Kohorten“.
Brand Safety und Ad Verification first
Absolut einig sind sich alle drei Unternehmen dagegen bei der Feststellung, dass Brand Safety und Ad Verification massiv an Bedeutung zunehmen werden. Maria von Scheel-Plessen wünscht sich endlich ein universelles Tool, um aus einer Hand verschiedene Kanäle steuern und beobachten zu können.
Stühmeier: „Die Frage nach der wachsenden Bedeutung der beiden Disziplinen kann man einfach mit ‘Ja’ beantworten. Wir sind auch lange noch nicht da, wo wir hinwollen. Was ist mit Adclutter, was ist mit Prebid-Blocking? In dem Moment, wo wir Kontext einkaufen und die Granularität der Markierung verschwimmt, besteht immer die Gefahr, dass wir den gleichen Nutzern zu viele Botschaften ausspielen“. Und Carsten Lackner unterstützt: „Dem kann ich nur voll und ganz zustimmen. Für uns ist Ad Verification heute noch kein Kern-KPI, da müssen wir besser werden“.
In Sachen Anreicherung des eigenen Tech Stack haben alle drei Marken unterschiedliche Anforderungen. Carsten Lackner sieht sich gut aufgestellt. Für ihn geht es um die richtige Balance zwischen Buying und Doing. Seine Agenturpartner decken die eigenen Blindspots ab.
Maria von Scheel-Plessen befindet sich im Aufrüst-Modus. Vor allem Themen wie Predictive Buying stehen ganz oben auf der Agenda. Und neues, gutes Personal.
Sven Stühmeier sagt für Vodafone: „Wir haben, glaube ich, keinen akuten Bedarf im Bereich Tech Stack. Unsere größte Baustelle ist eher konzeptionell: Wir wollen das Thema DCO (Dynamic Creative Optimisation) besser verstehen und ganze Creatives dynamisieren, inklusive individueller Videos“.
Fazit
Das ist nur ein Auszug des sehr spannenden Webinars. Es lohnt sich, sich das Video in voller Länge (80 Minuten) anzuschauen. Fakt ist: Eine gewisse Unsicherheit ist bei allen zu spüren, und vermutlich liegt Sven Stühmeier richtig, wenn er sagt, dass diese Unsicherheit die Marketer dauerhaft begleiten wird.
Klar ist aber auch, dass die Marketer stark darum bemüht sind, die Kontrolle zu behalten oder zurückzugewinnen. Und wenn die Partner dabei nicht helfen können, macht man es eben selbst.
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